Die Reisen Des Paulus
antiochenische Kirche vereinbarte mit Paulus und Barnabas, sie sollten noch einmal die Stätten ihrer ersten Missionsreise besuchen, die Gemeinden festigen und vor allem dafür sorgen, daß es nirgendwo zum Abfall vom Glauben kommen konnte. Wie uns die flammende Kritik
vieler Propheten beweist, neigten die Kinder Israel immer wieder dazu, fremde Götter anzubeten, Unzucht zu treiben, die Ehe zu brechen, übermäßig dem Wein zuzusprechen –
kurz, gegen alle Gebote zu verstoßen. Wenn es schon Juden, die im Gesetz unterwiesen und mit dem Gesetz vertraut waren, kaum vermochten, auf dem schmalen Pfad der Tugend zu bleiben, so kann man sich leicht vorstellen, um wieviel mehr man sich in Antiochien wegen der Nichtjuden sorgte.
Diese Männer und Frauen hatten sich zwar zum Christentum bekehrt, aber sie waren als Heiden geboren, hatten den Götzen geopfert und womöglich alle Arten von Unmoral kennengelernt und ausgeübt. Die neuen Anordnungen der Mutterkirche zu Jerusalem mußten noch aus einem anderen Grunde an die Gläubigen in der Ferne übermittelt werden.
Man munkelte nämlich, es seien bereits einige Leute von der Gruppe der Pharisäer tätig – angeblich versuchten sie zu erzwingen, daß die Heidenchristen sich in allen Punkten dem Gesetz unterwarfen. Was den Juden schon fast unmöglich war, konnte den Heiden auf gar keinen Fall gelingen. Vielleicht wurden sie sogar derartig abgeschreckt, daß sie in ihre frühere Lebensweise zurückfielen und ihren alten Glauben wieder annahmen. Paulus und Barnabas mußten zu ihnen 218
eilen und ihnen von der neuen Grundsatzentscheidung er-zählen. Im Frühling des Jahres 50 sollten sie von Antiochien aus aufbrechen. Doch dann entbrannte ein heftiger Streit zwischen Paulus und Barnabas. Barnabas wollte wieder Johannes Markus mitnehmen. Warum Markus sie in Pam-
phylien verlassen hatte, wissen wir nicht, doch es besteht kein Zweifel daran, daß Paulus das als Verrat, als unverzeih-liches Im-Stich-Lassen wertete. Markus mag gute Gründe gehabt haben, doch bei Paulus verfing das nicht. Möglicherweise mochte Markus Paulus nicht (er war nicht eben der einfachste Charakter), möglicherweise schätzte er die Paulinische Interpretation des Lebens und Wirkens von Jesus nicht. Vielleicht hätte man erwartet, daß Barnabas sich Paulus fügte und Markus entließ, aber er wollte unbedingt seine Heimat Zypern besuchen. Und so trennten sie sich. Barnabas und Markus fuhren nach Zypern, Paulus machte sich mit Silas auf den Weg – durch Syrien und Cilicien nach Lykaonien. Es war ein großer Vorteil, daß auch Silas römischer Bürger war. Wenn sie in Schwierigkeiten mit der Obrigkeit gerieten, konnten sie sich auf ihr Recht berufen und daher mit einem ordentlichen Gerichtsverfahren rechnen. Der Streit erwies sich als fruchtbar insofern, als nicht nur eine Gruppe im selben Arbeitsfeld tätig wurde. Jetzt gab es zwei Gruppen, und das hieß, daß man noch mehr in die Tiefe wirken konnte. Trotzdem war diese Trennung im Zorn unerfreulich, wenn man bedenkt, wie lange Paulus und Barnabas Reisegefährten gewesen waren und wie viel sie gemeinsam durchgestanden hatten. Paulus mochte mit seiner schroffen Haltung im Recht sein, aber gleichzeitig mangelte es ihm doch ein wenig an jener Liebe, die das Haupt-219
stück seiner Botschaft bildete. Nach dem Besuch der am Weg liegenden syrischen und cilicischen Gemeinden machten Paulus und Silas wahrscheinlich einen Abstecher nach Tarsus. Paulus wollte bestimmt sehen, wie es um die Gläubigen in seiner Heimatstadt stand. Außerdem bot sich Tarsus sowieso an, denn der Weg ins Hochland von Kleinasien führte durch die cilicische Pforte. Sie lag auf dem höchsten Punkt eines Passes, der zu den längsten und schwierigsten der Welt gehörte, und war an manchen Stellen kaum mehr als zehn Meter breit. Viele Armeen hatten sie passiert, viele Männer, die weitaus berühmter waren als die beiden unbekannten Wanderer. Alexander der Große war mit seinem Heer durch die cilicische Pforte zur Eroberung des Ostens ausgezogen. Paulus wollte im Westen Eroberungen machen, wenn auch ganz anderer Art. Selbst wenn es mitten im Frühling war und der Schnee schon schmolz, als sie das wilde Bergland durchquerten, müssen sie durchnäßt gewesen sein und gefroren haben. Die Feuchtigkeit im kalten Schatten der hochaufragenden Felsen kroch durch die Kleider bis unter die Haut. Mit einem Seufzer der Erleichterung werden sie die Hochebene betreten haben, die römische Straße, die in
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