Die Reisen Des Paulus
und effizi-enter hielt. Gewiß wollte Lenin auch die Welt verändern, doch dies, so könnte man sagen, in relativ beschränktem Umfang. Und notwendigerweise hatte er dabei in erster Linie seine Heimat im Sinn – Rußland. Paulus wollte die ganze Welt verändern. Ihm war stets daran gelegen, daß die Anhänger seines Glaubens für die Armen und Kranken sorgten und ihren Mann im Beruf standen. Aber sie sollten nicht nur redlich lebende Arbeiter in einer sozialen Gemeinschaft sein. Er forderte mehr. Sie sollten Mitglieder einer zeitlosen Gemeinschaft werden, einer Gemeinschaft, in der weder Beruf noch Volkszugehörigkeit ins Gewicht fielen, sondern nur Liebe und Mitgefühl für den nächsten.
Paulus hatte niemals den Tod eines anderen zu verantworten – abgesehen von seiner Einwilligung in die Steinigung des Stephanus. Kann man das auch von Lenin behaupten?
Paulus schrieb viel, aber nie war eine Schrift darunter, die Verteidigung des Terrorismus (Trotzki) hieß. Er war bereit, für seinen Glauben zu sterben. Er war nicht bereit, für seinen Glauben zu töten oder andere zum Töten aufzufor-
dern.
223
Und dieser Mann trug sich nun droben im Hochland
von Kleinasien, mitten im Sommer, mit dem Gedanken,
nach Ephesus zu gehen. Wie so oft, trug schließlich sein gesunder Menschenverstand den Sieg davon. Ephesus lag in einem Malariagebiet, und seine Gesundheit, unbeschadet dessen, ob er zuvor schon einmal Malaria gehabt hatte oder nicht, war keineswegs so gut, daß er es hätte wagen können, sich in dieser Jahreszeit im heißen Küstenstrich aufzuhalten.
Es ist bemerkenswert, daß ihnen dies Vorhaben jetzt und bei anderen Gelegenheiten »vom heiligen Geist gewehrt ward«.
Bithynien bot sich an – es lag weiter nördlich, im Osten das Schwarze Meer, im Westen Byzanz und Propontis (Marmarameer). Aber »der Geist Jesu ließ es ihnen nicht zu«.
Sehr folgerichtig, denn abgesehen von Byzanz war das Gebiet primitiv, zwar waldreich und fruchtbar, aber fast ganz ohne bedeutende Städte – also für ihre Zwecke wenig geeignet. Paulus’ Interesse konzentrierte sich auf den Westen, auf Griechenland und Italien. Hier würde seine Botschaft verstanden werden und auf fruchtbaren Boden fallen. Und so reisten sie denn nach Westen, durch Mysien, den nord-westlichen Teil Kleinasiens, und erreichten schließlich den Hafen Alexandrien-Troas.
Diesen Namen trug die Stadt Alexander dem Großen
zu Ehren. Der Nachsatz Troas unterschied sie vom ägyptischen Alexandrien. Sie war nicht nur Alexanders wegen be-rühmt, sondern auch wegen ihrer Lage. Ganz in der Nähe hatte sich das alte Troja befunden. Strabo berichtet, daß Rö-
mer, die ganz Griechenland bereisten, stets auch hierherka-men, um die Schlachtfelder des Trojanischen Krieges zu besuchen – vielleicht rezitierten sie dabei Homer, um sich das 224
Kampfgeschehen lebendig vor Augen zu führen. Unweit lag der Berg Ida, dessen Nordwestflanke praktisch die Küste be-rührte. Paulus hat gewiß von Homer gehört, aber ihn wohl kaum gelesen – all diese ehebrecherischen Götter mit ihren liederlichen Frauen und Geliebten! Verzweifelt oder ver-
ächtlich wird er die Touristen und Fremdenführer betrachtet haben, die aus der Stadt hinauszogen, um einen Tag in Troja oder eine Nacht auf dem heiligen Berg zu verbringen.
Auf dem Gipfel des Ida – hier hatte Zeus gesessen, um das schwankende Schlachtenglück zu beobachten, hier hatte er einmal, von einer goldenen Wolke bedeckt, in Heras Armen gelegen –, auf diesem Gipfel wuchs eine riesige Pinie. Laut Strabo war sie fast siebzig Meter hoch. In ihre Rinde schnitten Römer und Griechen ihre Namen, um an ihre ephemere Gegenwart zu erinnern – nicht anders als es zu allen Zeiten Menschen getan haben, die berühmte Stätten besichtigten.
Nordwestlich von Troas lag Mazedonien, die Heimat Alexanders, die Heimat jenes abgehärteten Bergvolks, das Griechenland, später auch Kleinasien und den Osten erobert hat. Auf den Straßen der Stadt dürfte man viele Mazedonier gesehen haben. Sie waren ganz anders als die Griechen, die Paulus kannte, sprachen einen breiten Dialekt, trugen Hüte mit großen Krempen und schwere Wollkleider und blickten so drein, als würden sie sich in Raufereien – sei’s in Schänken, sei’s am Kai – ausgezeichnet bewähren. Es überrascht nicht sonderlich, daß Paulus eines Nachts ein Gesicht hatte: Ein Mazedonier stand vor ihm und sprach: »Komm her-
über nach Mazedonien und hilf uns!« Mazedonien war der
Weitere Kostenlose Bücher