Die Reisen Des Paulus
später die Zeloten von Masada dazu veranlaßte, lieber Selbstmord zu begehen, als ihre Festung dem Feind zu übergeben.
Sein Ultimatum – das Ultimatum eines von Schlägen
gezeichneten Mannes, der im Stadtgefängnis saß – wur-de den Prätoren überbracht. Sie erkannten sofort, in welche Gefahr sie nachlässigerweise geraten waren: die Sache könnte Vorgesetzten zu Ohren kommen, ja bis nach Rom dringen, und das bedeutete wohl den sicheren Ruin. Und sie hatten gedacht, sie würden lediglich zwei jüdische Vaga-bunden bestrafen! Klugerweise entschieden sie sich dafür, zu Kreuze zu kriechen und sich zu entschuldigen. Ärger von oben – das war das Letzte, was sie wollten, ebensowenig wie Unruhe in der Stadt. Je schneller sie diese beiden loswur-den, desto besser, mochte es auch noch so demütigend sein.
Und dann konnte Philippi wieder in die gewohnte provinzielle Schläfrigkeit versinken. Die Offiziere und ihre Frauen würden wieder zusammen tafeln und trinken, alle würden wieder die Rangunterschiede im Dienstgrad und in der gesellschaftlichen Stellung respektieren, alle würden wieder an den bescheidenen internen Wettstreit denken – wer 248
das schönste Atrium, den besten Koch, den reichhaltigsten Weinkeller hatte.
Paulus war der Sieger. Die Stadtrichter kamen ins Ge-fängnis, entschuldigten sich und baten sie, die Stadt zu verlassen, weil sie nicht für ihre Sicherheit garantieren könnten, wenn der Mob sich noch einmal zusammenrottete.
Paulus und Silas erklärten sich einverstanden – nicht ohne eine gewisse Herablassung –, aber zuvor mußten sie Lydia besuchen und zur Gemeinde sprechen. Es möchte scheinen, daß Lukas, der nicht in die Unruhen des Vortages verwik-kelt gewesen war, es vorzog, in Philippi zu bleiben. So konnte er der jungen Kirche als Stütze dienen und außerdem seinen Arztberuf ausüben. Er ist Paulus wohl erst sechs Jahre später wieder begegnet, als dieser abermals Schwierigkeiten mit der Obrigkeit hatte und nach Cäsarea ins Gefängnis überführt wurde. Bevor Silas und Paulus die Stadt verließen, hat er gewiß noch ihre Wunden behandelt und ihnen eine Kräuterheilsalbe mitgegeben. Lydia von Thyatira, Lukas und die anderen Mitglieder der kleinen Gemeinde ver-abschiedeten sie. Paulus, Silas und Timotheus zogen auf der Via Egnatia, die durchs heiße, sumpfige Flachland führte, weiter nach Westen.
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O L
Herbst. Viele Jahrhunderte später schrieb der franzö-
sische Dichter Arthur Rimbaud Worte nieder, die
auch Paulus durch den Sinn gegangen sein könnten, als er mit seinen beiden Gefährten nach Westen zog, auf Amphipolis zu: »Schon Herbst! – Aber warum mich sehnen nach einer ewigen Sonne, wenn ich schon auf die Entdek-kung der göttlichen Klarheit ausgegangen bin – fern von den Menschen, die in den Zeiten sterben. Herbst. Mein Kahn, aufgestiegen in die Regionen des unbeweglichen Ne-bels, wendet den Kiel zum Hafen des Elends, der gewaltigen Stadt mit dem von Feuer und Schlamm befleckten Himmel.« Und weiter: »Manchmal sehe ich am Himmel
einen endlos weiten Strand, bedeckt mit weißen, der Freude hingegebenen Völkern. Ein großes goldenes Schiff über mir läßt seine vielfarbigen Fahnen flattern in den Morgen-winden …«
Die drei Männer wanderten durch Amphipolis, bekannt
auch unter dem Namen »Neun Wege« – eine Stadt, die in einer Schleife des Flusses Strymon lag. Einst hatte sie zu den wichtigsten athenischen Besitzungen in Nordgriechen-land gehört. Im 5. Jahrhundert v. Chr. stritten sich Athen und Sparta um die Stadt. Schließlich fiel sie dem großartigen spartanischen Feldherrn Brasidias zu. Er starb in der Schlacht und wurde in Amphipolis beigesetzt. Ein paar Jahrhunderte später war Amphipolis zur Bedeutungslosig-keit herabgesunken, ein kleiner, völlig provinzieller Ort – so schnell vergeht der Ruhm der Welt.
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»Nachdem sie aber durch Amphipolis und Apollonia ge-
reist waren …« Auch Apollonia am Bolbe-See gelegen, wird in der Apostelgeschichte nicht weiter erwähnt. Ihr Ziel war die volkreiche, aufstrebende Stadt Thessalonich. Der mazedonische Feldherr Kassander hatte sie nach seiner Frau benannt, einer Halbschwester Alexanders des Großen. Frü-
her hieß die Stadt »Warmes Bad« – recht treffend, denn hier gab es heiße Quellen und ein ziemliches Treibhauskli-ma. Thessalonich, heute Saloniki, liegt windgeschützt am Golf gleichen Namens. Im Sommer und im Herbst herrscht meist
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