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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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Würgegriff. Er versucht seine Verzweiflung über die vermißte Liebe in philosophischen Betrachtungen über das Wesen der wahren Liebe aufzulösen. Aber es bleibt bei einer Abstraktion, weil er trotz der intellektuellen Ablehnung der Moral emotional immer noch ihr treuer Diener ist. Er darf sich vor sich selbst ekeln, nicht aber vor seiner Mutter, er darf die schmerzhaften Botschaften seiner Kindheitserinnerungen nicht hören, ohne sich die Hoffnungen zu zerstören, die ihm als Kind zum Überleben verhalfen. Rimbaud schreibt wieder und wieder, daß er sich nur auf sich selbst verlassen könne. Was hat der kleine Junge lernen müssen bei einer Mutter, die ihm anstatt echter Liebe nur ihre Störung und ihre Heuchelei angeboten hatte? Sein ganzes Leben war ein grandioser Versuch, sich mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, vor der Zerstörung durch seine Mutter zu retten.
    Junge Menschen, denen es in der Kindheit ähnlich wie Rimbaud ergangen ist, sind wahrscheinlich auch aus diesem Grund von seiner Poesie fasziniert, weil sie darin ihre eigene Geschichte vage zu spüren vermögen.
    Rimbaud war bekanntlich mit Paul Verlaine befreundet. Seine Sehnsucht nach Liebe und echter Kommunikation scheint sich in dieser Freundschaft zunächst zu erfüllen, doch das aus der Kindheit stammende Mißtrauen, das sich in der Intimität mit einem geliebten Menschen meldet, sowie auch die Vergangenheit von Verlaine lassen diese Liebe nicht leben. Die Flucht in die Droge macht es beiden unmöglich, die Offenheit, die sie suchten, zu leben. Es kommt zu vielen gegenseitigen Verletzungen; Verlaineagiert schließlich genauso zerstörerisch wie Rimbauds Mutter und schießt ihn im betrunkenen Zustand sogar zweimal an. Dafür muß er zwei Jahre im Gefängnis büßen.
    Um die echte »Liebe an sich« zu retten, die Rimbaud in seiner Kindheit vermißt hatte, sucht er die Liebe in der Caritas, im Verständnis, im Mitgefühl für den anderen. Er will dem anderen geben, was er selber nicht bekommen hat. Er will seinen Freund verstehen, ihm helfen, sich selbst zu verstehen, aber die verdrängten Emotionen seiner Kindheit machen ihm stets einen Strich durch die Rechnung. Er findet in der christlichen Nächstenliebe keine Erlösung, denn seine unbestechliche Wahrnehmung erlaubt ihm keine Selbsttäuschung. So verbringt er sein Leben mit der ständigen Suche nach seiner eigenen Wahrheit, die ihm verborgen bleibt, weil er sehr früh gelernt hat, sich selbst für das zu hassen, was seine Mutter ihm angetan hat. Er erlebt sich als ein Monster, seine Homosexualität als Laster, seine Verzweiflung als Sünde, aber erlaubt sich nicht, seine nie endende, gerechtfertigte Wut dorthin zu richten, woher sie ihren Ursprung nahm, auf die Frau, die ihn, solange sie konnte, in ihrem Gefängnis hielt. Sein ganzes Leben lang will er sich aus diesem Gefängnis befreien, mit Hilfe des Drogenkonsums, der Reisen, der Illusionen und vor allem der Poesie, aber bei all diesen verzweifelten Versuchen, Türen zur Befreiung zu öffnen, bleibt eine, die wichtigste, verschlossen: die Tür zur emotionalen Realität seiner Kindheit, zu den Gefühlen des kleinen Kindes, das ohne einen schützenden Vater, mit einer schwer gestörten, bösartigen Frau aufwachsen mußte.
    Die Biographie Rimbauds zeigt beispielhaft, wie der Körper ein Leben lang nach der so früh vermißten echtenNahrung suchen muß. Rimbaud war getrieben, einen Mangel, einen Hunger zu stillen, der nicht mehr gestillt werden konnte. Sein Drogenkonsum, seine zahlreichen Reisen, seine Freundschaft mit Verlaine lassen sich so gesehen nicht nur als eine Flucht vor der Mutter verstehen, sondern auch als die Suche nach der Nahrung, die ihm von ihr verweigert worden war. Da diese innere Realität unbewußt bleiben mußte, ist Rimbauds Leben vom Wiederholungszwang geprägt. Nach jeder mißglückten Flucht kehrt er zur Mutter zurück, auch nach der Trennung von Verlaine und am Ende seines Lebens, nachdem er bereits seine Kreativität geopfert, das Schreiben seit Jahren aufgegeben und somit indirekt die Ansprüche der Mutter erfüllt hatte, indem er Geschäftsmann geworden war. Die letzte Zeit unmittelbar vor seinem Tod verbringt Rimbaud zwar im Krankenhaus von Marseille, zuvor war er aber bei der Mutter und der Schwester in Roche und ließ sich dort pflegen. Die Suche nach der Liebe der Mutter endete im Gefängnis der Kindheit.

I.5  Das eingesperrte Kind und die
Notwendigkeit der Schmerzverleugnung
– Yukio

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