Die Revolte des Koerpers
Mishima
Yukio Mishima, der berühmte japanische Dichter, der 1970 im Alter von fünfundvierzig Jahren Harakiri beging, hat sich oft als Monster bezeichnet, weil er in sich einen Hang zum Morbiden, Perversen verspürte. Seine Phantasien galten dem Tod, der dunklen Welt, der sexuellen Gewalt. Auf der anderen Seite weisen seine Gedichte eine außergewöhnliche Sensibilität auf, die zeigt, daß er unter dem Gewicht der tragischen Erfahrungen in seiner Kindheit sehr leiden mußte.
Mishima war das erste Kind seiner Eltern, die, wie es damals in Japan noch üblich war, als Neuverheiratete im Hause der Großeltern lebten, als er 1925 geboren wurde. Fast von Anfang an wurde er von seiner damals fünfzigjährigen Großmutter in ihr Zimmer genommen, sein Bettchen stand neben dem ihren, und er lebte dort, jahrelang von der ganzen Welt abgeschnitten, ausschließlich ihren Bedürfnissen ausgeliefert. Die Großmutter litt an schweren Depressionen und erschreckte das Kind mit ihren gelegentlichen hysterischen Ausbrüchen. Sie verachtete ihren Mann und auch ihren Sohn, Mishimas Vater, aber vergötterte auf ihre Art das Enkelkind, das nur ihr gehören sollte. Der Dichter erinnert sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen, daß es in diesem Zimmer, das er mit der Großmutter teilte, stickig war und daß es schlecht gerochen hat, aber er berichtet nicht über Emotionen der Wut und der Auflehnung über seine Situation, weil sie ihm als das einzig Normale erschien. Mit vier Jahren entwickelte er eine schwere Erkrankung, die man als eine Autointoxikation bezeichnete und die sich später als chronisch erwies. Als er mit sechs Jahren zur Schule ging, lernte er zum ersten Mai andere Kinder kennen, unter denen er sich jedoch seltsam und fremd fühlte. Natürlich hatte er Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Schülern, die emotional freier waren und andere Erfahrungen in ihren Familien gemacht hatten. Als er neun war, zogen seine Eltern in ihre eigene Wohnung, nahmen aber ihr Kind nicht mit. In dieser Zeit fing er an, Gedichte zu schreiben, und die Großmutter unterstützte dies sehr. Als er mit zwölf zu seinen Eltern kam, war auch seine Mutter stolz auf das, was er geschrieben hatte, aber der Vater zerriß seine Manuskripte, und so wurde Mishima gezwungen, im geheimen zu schreiben. Er fand zu Hause auch kein Verständnis und keine Aufnahme. Die Großmutter hatte aus ihm ein Mädchen machen wollen und der Vater einen Jungen, mit Hilfe von Schlägen. So ging er oft zur Großmutter, sie wurde für ihn nun eine Zuflucht vor den Mißhandlungen des Vaters, zumal sie ihn jetzt, im Alter von zwölf, dreizehn Jahren, ins Theater mitnahm. Das öffnete ihm die Türen zu einer neuen Welt: der Welt der Gefühle.
Ich verstehe den Selbstmord von Mishima als Ausdruck seines Unvermögens, die frühkindlichen Gefühle der Auflehnung, des Zorns, der Empörung über das Verhalten seiner Großmutter zu erleben, die er nie zum Ausdruck bringen durfte, weil er ihr doch dankbar war. Dem Kind mußte die Großmutter in seiner Einsamkeit und im Vergleich zum Verhalten des Vaters als Retterin erscheinen. Seine wahren Gefühle blieben im Gefängnis seiner Bindung an diese Frau, die das Kind von Anfang an für ihre eigenen, möglicherweise auch sexuellen Bedürfnisse ausgebeutet hat. Doch darüber schweigen gewöhnlich die Biographen. Bis zuletzt, bis zu seinem Tod hat auch Mishima nicht darüber gesprochen, sich seiner Wahrheit nie wirklich gestellt.
Es werden unzählige Gründe für Mishimas Harakiri angebracht. Doch der naheliegendste Grund wird selten erwähnt, weil es doch eigentlich ganz normal ist, daß man den Eltern, Großeltern oder Ersatzpersonen Dankbarkeit schuldet, auch wenn man von ihnen gequält wurde. Das gehört zu unserer Moral, die dazu führt, daß unsere wahren Gefühle und unsere genuinen Bedürfnisse begraben werden. Schwere Krankheiten, frühe Todesfälle und Suizide sind die logische Folge einer solchen Unterwerfung unter Gesetze, die wir als Moral bezeichnen und die im Grunde das wahre Leben zu ersticken drohen, weltweit, solange unser Bewußtsein diese Gesetze toleriert und höher achtet als das Leben. Da der Körper da nicht mithält, redet er in der Sprache der Krankheiten, die nicht verstanden werden kann, solange die Verleugnung der wahren Gefühle in der Kindheit nicht durchschaut wird.
Manche Gebote des Dekalogs können heute noch Gültigkeit beanspruchen. Doch das Vierte Gebot widerspricht den Gesetzen der Psychologie.
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