Die Revolte des Koerpers
ihnen gutgetan.
Allerdings gehört Schiller insofern zu den Ausnahmen, als er in seinem ganzen Werk, von den Räubern bis zu Wilhelm Tell, ununterbrochen gegen die Ausübung von blinder Gewalt durch Autoritäten ankämpfte und durch seine großartige Sprache in vielen Menschen die Hoffnung keimen ließ, daß dieser Kampf eines Tages gewonnen werden kann. Aber in all seinen Werken weiß Schiller nicht, daß seine Auflehnung gegen absurde Anordnungen der Autoritäten von den frühesten Erfahrungen seines Körpers gespeist wird. Er wird von seinem Leiden an der abstrusen, beängstigenden Machtausübung durch seinen Vater zum Schreiben gedrängt, aber er darf diese Motivation nicht erkennen. Er will schöne und große Literatur schreiben. Er will die Wahrheit mittels historischer Gestalten sagen, und das gelingt ihm hervorragend. Nur die volle Wahrheit über sein Leiden an seinem Vater bleibt unerwähnt und auch ihm bis zu seinem frühen Tod verborgen. Es bleibt ein Geheimnis für ihn und für die Gesellschaft, die ihn seit Jahrhunderten bewundert und sich zum Vorbild nimmt, weil er in seinen Werken für die Freiheit und die Wahrheit kämpfte. Doch nur für die von der Gesellschaft zugelassene Wahrheit. Wie wäre wohl der mutige Friedrich von Schiller erschrocken, wenn ihm jemand gesagt hätte: Du brauchst deinen Vater nicht zu ehren. Menschen, die dir so geschadet haben, brauchen von dir weder geliebt noch geehrt zu werden, auch wenn sie deine Eltern sind. Du bezahlst mit den schrecklichsten Qualen deines Körpers für diese Ehrerweisung und Ehrfurcht. Du hast die Möglichkeit, dich zu befreien, wenn du dem Vierten Gebot nicht mehr huldigst. Was hätte Schiller dazu gesagt?
I.3 Der Verrat
an den eigenen Erinnerungen
– Virginia Woolf
Ich habe vor über zwei Jahrzehnten in Du sollst nicht merken auf die Geschichte Virginia Woolfs hingewiesen, die, wie auch ihre Schwester Vanessa, als Kind von ihren beiden Halbbrüdern sexuell mißbraucht wurde. Nach Angaben von Louise DeSalvo (1990) kommt sie in ihren Tagebüchern, die vierundzwanzig Bände umfassen, immer wieder auf diese schreckliche Zeit zurück, in der sie nicht wagte, ihre Situation den Eltern anzuvertrauen, weil sie keine Unterstützung von ihnen erwarten konnte. Ihr Leben lang litt sie an Depressionen und hatte dennoch die Kraft, an ihren literarischen Werken zu arbeiten, mit der Hoffnung, sich auf diese Weise ausdrücken zu können und die schrecklichen Traumen der Kindheit schließlich zu überwinden. Doch 1941 siegte die Depression, und Virginia Woolf ertränkte sich.
Als ich in Du sollst nicht merken ihr Schicksal beschrieb, fehlte mir eine wichtige Information, die ich erst viele Jahre später erhielt. In Louise DeSalvos Studie wird erzählt, wie Virginia Woolf, nach der Lektüre von Freuds Werken, an der Authentizität ihrer Erinnerungen zu zweifeln begann, die sie unmittelbar zuvor in autobiographischen Skizzen notiert hatte, obwohl sie doch auch durch Vanessa wissen konnte, daß diese ebenfalls von den Halbbrüdern mißbraucht worden war. DeSalvo schreibt, daß sich Virginia von nun an bemühte, in Anlehnung an Freud das menschliche Verhalten nicht mehr wie bisherals die logische Folge von Kindheitserlebnissen anzusehen, sondern als Resultat der Triebe, Phantasien und Wunschvorstellungen. Freuds Schriften stürzten Virginia Woolf in völlige Verwirrung: Auf der einen Seite wußte sie genau, was vorgefallen war, auf der anderen Seite wünschte sie sich, wie fast jedes ehemalige Opfer von sexueller Gewalt, daß dies nicht wahr gewesen wäre. Schließlich hat sie Freuds Theorien gerne angenommen und opferte für diese Verleugnung ihr Gedächtnis. Sie fing an, ihre Eltern zu idealisieren, ihre ganze Familie in einem sehr positiven Licht zu schildern, wie sie es früher nicht getan hatte. Nachdem sie Freud recht gab, wurde sie unsicher, verwirrt und hielt sich nun für verrückt. DeSalvo schreibt:
»Ich glaube fest, daß dadurch ihr Entschluß, sich umzubringen, verstärkt wurde, und diese These läßt sich auch belegen. ... Meiner Ansicht nach war für Virginia durch Freud dem Ursache-Wirkung-Verhältnis, das sie versucht hatte herauszuarbeiten, die Grundlage entzogen, so daß sie sich gezwungen sah, ihre eigenen Erklärungen für ihre Depression und ihren Geisteszustand zurückzunehmen. Sie war davon ausgegangen, daß es möglich war, ihren Zustand auf die Inzesterlebnisse ihrer Kindheit zurückzuführen. Folgte sie aber Freud, mußte sie
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