Die Revolte des Koerpers
eines jungen, freiheitsdurstigen Menschen, der sich in seinen empfänglichsten Jahren wie ein Gefangener fühlen mußte, denn die Pforten der Anstalt öffneten sich nur für den obligaten Spaziergang, den die Eleven unter militärischer Überwachung vornehmen mußten. Schiller hatte in diesen acht Jahren kaum einen freien Tag und nur gelegentlich ein paar freie Stunden. Schulferien waren damals unbekannt, Urlaub wurde nicht erteilt. Der ganze Tagesverlauf war militärisch geregelt. In den großen Schlafsälen wurde im Sommer um fünf, im Winter um sechs geweckt. Unteroffiziere bewachten das Bettenmachen und die Toilette. Dann marschierten die Zöglinge in den Rangiersaal zum Frühappell, von da in den Speisesaal zum Frühstück, das aus Brot und Mehlsuppe bestand. Alle Verrichtungen wurden kommandiert. Das Händefalten zum Gebet, das Niedersetzen und der Abmarsch. Von sieben bis zwölf Uhr war Unterricht.Dann kam die halbe Stunde, die dem Eleven Schiller die meisten Rügen und den Ruf eines Schweinepelzes zuzog: die Zeit der Säuberung, Propreté genannt. Der Paradeanzug wurde jetzt angelegt, der stahlblaue Rock mit den schwarzen Aufschlägen, weiße Weste und Hose, Stulpen, Stiefel und Degen, der Dreispitz mit Borten und Federbusch. Da der Herzog rotes Haar nicht ausstehen konnte, mußte Schiller es mit Puder bestreuen. Dazu trug er gleich allen anderen einen langen, künstlichen Zopf und an den Schläfen zwei mit Gips verkleisterte Papilloten. So angetan marschierten die Eleven zum Mittagsappell und in den Speisesaal. Nach dem Essen war Spaziergang und Exerzieren angeordnet, danach Unterricht von zwei bis sechs, anschließend wieder Propreté. Der Rest des Tages war dem genau vorgeschriebenen Selbststudium gewidmet. Gleich nach dem Abendessen ging es zu Bett. In die Zwangsjacke dieser ewig gleichen Ordnung blieb der junge Schiller bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr eingeschnürt« (Burschell 1958, S. 25).
Schiller hatte immer wieder unter sehr schmerzhaften Krämpfen an verschiedenen Organen zu leiden; in seinen vierziger Jahren folgten schwere Erkrankungen, die ihn ständig mit der Gefahr des Todes konfrontierten, auch mit Delirien verbunden waren und seinen Tod mit sechsundvierzig Jahren bewirkten.
Es steht für mich außer Frage, daß diese schweren Krämpfe auf die häufigen körperlichen Strafen in seiner Kindheit und auf die grausame Disziplin seiner Jugendjahre zurückzuführen sind. Die Gefangenschaft begann eigentlich schon vor der Militärschule, beim Vater, der systematisch Gefühle von Freude in seinem Kind, aber auchbei sich selbst bekämpfte und dies Selbstdisziplin nannte. So wurde den Kindern zum Beispiel vorgeschrieben, daß sie sofort zu essen aufhören und den Tisch verlassen sollten, wenn sie Lust am Essen verspürten. Das gleiche tat auch der Vater. Es mag sein, daß diese bizarre Form der Unterdrückung jeder Lebensqualität eine Ausnahme bildete, aber das System der Militärschule war damals weit verbreitet und galt als die preußische strenge Erziehung, deren Folgen kaum reflektiert wurden. Die Atmosphäre dieser Schule erinnert an manche Beschreibungen der Nazi-Lager. Zweifellos war dort der staatlich organisierte Sadismus noch viel perfider und grausamer als in den Militärakademien, doch dessen Wurzeln lagen im Erziehungssystem der vergangenen Jahrhunderte (vgl. AM 1980). Sowohl die Befehlenden als auch die Ausführenden der geplanten Grausamkeiten haben als Kinder die Schläge und zahlreiche andere Methoden der Demütigung am eigenen Körper erfahren und diese genau gelernt, so daß sie sie später in der gleichen Form, ohne Schuldgefühle und ohne Reflexion, anderen Menschen zufügen konnten, die ihrer Macht unterlagen wie Kinder oder eben Häftlinge. Schiller war nicht davon getrieben, sich an anderen für den einst erlittenen Terror zu rächen. Aber sein Körper litt lebenslang, als Folge der Brutalität, die er in der Kindheit hatte erdulden müssen.
Natürlich war Schiller kein Sonderfall. Millionen von Männern sind als Kinder durch solche Schulen gegangen und mußten lernen, sich schweigend der Übermacht der Autorität zu fügen, wenn sie nicht schwer bestraft oder gar umgebracht werden wollten. Diese Erfahrungen trugen in ihnen dazu bei, daß sie das Vierte Gebot in hohen Ehren hielten und ihren Kindern aufs schärfste eingeprägt haben, diese Autorität niemals in Frage zu stellen. Was Wunder also, daß die Kinder der Kindeskinder heute noch behaupten, Schläge hätten
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