Die Revolte des Koerpers
andere Möglichkeiten in Betracht ziehen: daß ihre Erinnerungen verzerrt, wenn nicht sogar falsch waren, daß sie eher eine Projektion ihrer Wünsche denn reale Erfahrung waren, daß der Vorfall an sich ein Produkt ihrer Einbildung war« (DeSalvo 1990, S. 155).
Vielleicht hätte der Selbstmord noch vermieden werden können, wenn Virginia Woolf einen Wissenden Zeugengehabt hätte, mit dem sie ihre Gefühle über die so früh erlittene Grausamkeit hätte teilen können. Aber niemand war da, und sie hielt Freud für den Experten. Da hatte sie sich getäuscht, seine Schriften haben sie verunsichert, und nun verzweifelte sie lieber an sich selbst als an der großen Vaterfigur Sigmund Freud, die die Wertmaßstäbe der damaligen Gesellschaft repräsentierte.
Leider haben sich diese seither nicht sehr verändert. Noch 1987 mußte der Journalist Nikolaus Frank erfahren, welche Empörung seine Bemerkung in einem Stern- Interview, er werde seinem Vater dessen Grausamkeiten nie verzeihen, auslöste. Der Vater war in der Kriegszeit Gauleiter in Krakau und hatte viele Menschen unsäglich leiden lassen. Doch vom Sohn erwartete die ganze Gesellschaft Nachsicht mit diesem Ungeheuer. Man schrieb Nikolaus Frank, daß das Schlimmste, was sein Vater getan habe, war, so einen Sohn zu zeugen.
I.4 Der Selbsthaß und die unerfüllte Liebe
– Arthur Rimbaud
Arthur Rimbaud wurde 1854 geboren und starb 1891 im Alter von also siebenunddreißig Jahren an Krebs, einige Monate nachdem sein rechtes Bein amputiert wurde. Über seine Mutter berichtet Yves Bonnefoy, sie sei hart und brutal gewesen, darüber seien sich alle Quellen einig:
»Die Mutter Rimbauds war ein Wesen voller Ehrgeiz, stolz, hartnäckig im Eigensinn, verstecktem Haß und Trockenheit. Ein Musterfall von reiner, aus einer bigott gefärbten Religiosität fließenden Energie; aus den erstaunlichen Briefen, die sie um 1900 schrieb, geht sogar hervor, daß sie in die Vernichtung, in den Tod verliebt war. Wie könnte man sich hier nicht an ihre Begeisterung für alles, was mit dem Friedhof zu tun hatte, erinnern. Im Alter von fünfundsiebzig Jahren läßt sie sich von den Totengräbern in die Gruft versenken, in die sie später zwischen den verstorbenen Kindern Vitali und Arthur beerdigt werden wird, um auf diese Weise einen Vorgeschmack der Nacht zu kosten« (Bonnefoy 1999, S. 17).
Wie muß es für ein intelligentes und empfindsames Kind gewesen sein, neben einer solchen Frau aufzuwachsen? Die Antwort findet sich in der Dichtung Rimbauds. Der Biograph schreibt:
»Mit allen Mitteln versuchte sie denn auch diese unabänderliche Entwicklung aufzuhalten und zu unterbrechen. Wenigstens jeder Wunsch nach Unabhängigkeit, jede Vorahnung von Freiheit sollten im Keime erstickt werden. Beim Jungen, der sich als Waise fühlte, spaltete sich das Verhältnis zur Mutter in Haß und Hörigkeit. Daraus, daß er keine Liebe genoss, schloss Rimbaud dumpf, daß er schuldig sei. Er lehnte sich wild, mit der ganzen Kraft seiner Unschuld, gegen seinen Richter auf« (ebd.).
Die Mutter hält ihre Kinder unter ihrer totalen Kontrolle und nennt das Mutterliebe. Ihr hellwacher Junge durchschaut diese Lüge, merkt, daß die unaufhörliche Sorge um Äußerlichkeiten nichts mit wahrer Liebe zu tun hat, doch er kann seine Beobachtung nicht voll zulassen, denn als Kind braucht er die Liebe unbedingt, zumindest die Illusion der Liebe. Er darf die Mutter nicht hassen, die sich scheinbar so um ihn sorgt. Also richtet er seinen Haß gegen sich selbst, in der unbewußten Überzeugung, er habe die Lüge und die Kälte verdient. Er wird vom Ekel geplagt, den er auf die Provinzstadt projiziert, auf die verlogene Moral, ähnlich wie Nietzsche es tat, und auf sich selbst. Sein ganzes Leben versucht er diesen Gefühlen mit Hilfe von Alkohol, Haschisch, Absinth, Opium und auch mit Hilfe ausgedehnter Reisen zu entfliehen. Als Jugendlicher rennt er zweimal von zu Hause davon, wird aber jedesmal wieder zurückgeholt.
In seiner Dichtung spiegelt sich der Selbsthaß, aber auch die Suche nach der Liebe, die ihm am Anfang des Lebens so vollständig versagt wurde. Später, in der Schulzeit, hat er das Glück, einem liebenden Lehrer zu begegnen, der ihm, gerade in den entscheidenden Jahren der Pubertät,zum aufrichtigen Freund, Begleiter und Förderer wird. Dieses Vertrauen ermöglicht ihm zu schreiben und seinen philosophischen Gedanken nachzugehen. Doch die Kindheit hält ihn trotzdem weiter in ihrem
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