Die Revolte des Koerpers
sehen, weil mir das Sehen Schuldgefühle macht. Dann beginnt das Geschwür zu eitern, und ich werde depressiv. Dann versuche ich wieder, meine Gefühle zuzulassen, und denke, daß ich dasRecht habe, sie zu spüren, die Intensität meines Ärgers zu sehen. Wenn ich dies tue, wenn ich meine Gefühle zulasse, auch wenn diese selten positiv sind, kriege ich wieder Luft zum Atmen. Ich fange an, mir die Erlaubnis zu geben, bei meinen wahren Gefühlen zu bleiben. Wenn mir dies gelingt, fühle ich mich besser, lebendiger, und die Depression ist verschwunden.
Und dennoch versuche ich wider besseres Wissen stets von neuem, meine Mutter zu verstehen, sie zu akzeptieren, wie sie ist, ihr alles zu verzeihen. Ich bezahle das jedesmal mit Depressionen. Ich weiß nicht, ob diese Einsicht genügt, um die Verletzungen auszuheilen, doch ich nehme meine Erfahrungen sehr ernst. Nicht so meine erste Therapeutin. Sie wollte unbedingt die Beziehung zu meiner Mutter verbessern. So wie sie jetzt ist, konnte sie sie nicht akzeptieren. Ich auch nicht. Aber wie kann ich mich achten, ohne daß ich meine wahren Gefühle ernst nehme? Dann weiß ich ja gar nicht, wer ich bin und wen ich achte.«
Dieser Wunsch, anders zu sein, als man ist, um den alten Eltern das Leben zu erleichtern und von ihnen schließlich doch noch Liebe zu bekommen, ist verständlich, aber er steht allzuoft im Widerspruch zum genuinen, vom Körper unterstützten Bedürfnis, sich selbst treu zu sein. Ich denke, daß die Selbstachtung sich von alleine entwickeln wird, sobald dieses Bedürfnis befriedigt werden kann.
II.5 Lieber morden, als die Wahrheit
zu fühlen
Das Phänomen der Serienmörder beschäftigte bis vor kurzem nur Fachleute. Die Psychiatrie hat sich kaum mit der Kindheit von Delinquenten befaßt und betrachtete Verbrecher als Menschen, die mit abartigen Instinkten auf die Welt gekommen seien. Es scheint sich auf diesem Gebiet etwas zu verändern und mehr Verständnis anzukündigen. Ein Artikel in Le Monde vom 8. Juni 2003 widmet sich erstaunlich ausführlich der Kindheit des Verbrechers Patrice Alègre, und aufgrund sehr weniger Einzelheiten wird klar, weshalb dieser Mann mehrere Frauen vergewaltigt und erwürgt hat. Um zu verstehen, wie es zu grausamen Morden kam, bedarf es weder komplizierter psychologischer Theorien noch der Annahme des angeborenen Bösen, sondern lediglich des Einblicks in die Familienatmosphäre des aufwachsenden Kindes. Diesen Einblick erhalten wir indes selten, weil die Eltern des Verbrechers zumeist geschont und von ihrer Mitschuld freigesprochen werden.
Nicht so im Le-Monde- Artikel . Da wird in wenigen Abschnitten eine Kindheit geschildert, die keine Zweifel an dem Warum der verbrecherischen Karriere läßt. Patrice Alègre war das älteste Kind eines sehr jungen Ehepaares, das sich überhaupt keine Kinder wünschte. Der Vater war Polizist, von dem Patrice in der Verhandlung erzählt, daß dieser nur nach Hause kam, um ihn zu schlagen und zu beschimpfen. Er haßte diesen Vater und flüchtete zu seiner Mutter, die ihn angeblich liebte und der er treu zu Diensten stand. Sie war Prostituierte, und abgesehen vonden vom Gutachter vermuteten inzestuösen Befriedigungen mit dem Körper ihres Kindes brauchte sie den Jungen auch für die Rolle des Wächters beim Verkehr mit ihrer Kundschaft. Das Kind mußte an der Tür stehen und Meldung erteilen, wenn eine Gefahr drohte (vermutlich die Ankunft des zornigen Vaters). Patrice erzählte, daß er nicht immer zusehen mußte, was im Zimmer nebenan geschah, aber er konnte seine Ohren nicht verschließen, und er litt unsäglich unter dem ständigen Wimmern und Stöhnen seiner Mutter, die er schon als kleines Kind mit panischer Angst bei oralem Sex beobachtete.
Es mag sein, daß es vielen Kindern gelingt, ein solches Schicksal zu überleben, ohne später kriminell zu werden. Ein Kind hat oft ein unerschöpfliches Potential: Es kann auch später berühmt werden, wie etwa Edgar Allan Poe, der sich schließlich zu Tode trank, oder wie Guy de Maupassant, der seine tragische, verwirrende Kindheit in angeblich dreihundert Geschichten »verarbeitet« hat, aber nicht verhindern konnte, daß er, wie sein jüngerer Bruder schon vor ihm, psychotisch wurde und mit zweiundvierzig Jahren in der Klinik starb.
Patrice Alègre war es nicht beschieden, einen einzigen Menschen zu finden, der ihn aus seiner Hölle gerettet und ihm ermöglicht hätte, die Verbrechen seiner Eltern als solche zu sehen. So hielt er
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