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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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schweigend zusehen konnten.
    Und doch hält man diese Absurdität für normal. Es ist erstaunlich, daß selbst allgemein geschätzte Therapeuten und Autoren sich noch nicht von der Idee verabschieden konnten, den Eltern zu vergeben sei die Krönung einer gelungenen Therapie. Auch wenn diese Überzeugung heute mit weniger Sicherheit vertreten wird, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war, sind die an sie geknüpften Erwartungen unübersehbar und enthalten die Botschaft: Wehe dir, wenn du das Vierte Gebot nicht beachtest. Die besagten Autoren meinen zwar oft, man solle sich nicht beeilen und nicht am Anfang der Therapie verzeihen, sondern die starken Emotionen zuerst einmal zulassen. Aber eines Tages müsste man eine entsprechende Reife erreicht haben, darüber sind sich die meisten offenbar einig. Diese Fachleute halten es für selbstverständlich, daß es gut und wichtig ist, wenn man den Eltern endlich aus vollem Herzen vergeben kann. Meines Erachtens ist diese Meinung irreführend, weil unser Körper nicht nur aus dem Herzen besteht und unser Gehirn nicht ein Behälter ist, dem man im Religionsunterricht diese Absurditäten und Widersprüche eingetrichtert hat, sondern ein Lebewesen mit dem vollständigen Gedächtnis dessen, was ihm zugestoßen ist. Ein Mensch, der das voll und ganz wahrnehmenkann, würde sagen: Gott kann nicht von mir fordern, daß ich etwas glaube, was in meinen Augen einen Widerspruch enthält und meinem Leben schadet.
    Kann man von Therapeuten erwarten, daß sie sich dem Wertesystem unserer Eltern entgegensetzen, um uns zu unserer Wahrheit zu begleiten, wenn dies nötig ist? Ich bin überzeugt, daß man dies darf und sogar muß, wenn man sich in eine Therapie begibt, besonders wenn man schon selber so weit ist, daß man die Botschaft seines Körpers ernst nehmen kann. So schreibt zum Beispiel Dagmar, eine junge Frau:
     
    »Meine Mutter leidet an einer Herzkrankheit. Ich möchte nett zu ihr sein, mit ihr am Bett sprechen, und ich versuche, so oft ich kann, hinzugehen. Doch jedesmal überfällt mich dabei ein unerträgliches Kopfweh, ich erwache in der Nacht schweißgebadet und lande schließlich in meiner depressiven Verstimmung mit Suizidgedanken. In den Träumen sehe ich mich als Kind, das sie damals über den Boden schleifte, und schrie, schrie, schrie. Wie bringe ich das alles zusammen? Ich muß doch hingehen, weil sie meine Mutter ist. Ich will mich aber nicht umbringen und nicht krank sein. Ich brauche jemanden, der mir beisteht und mir sagt, wie ich zur Ruhe kommen kann. Ich will mich nicht belügen und will auch meine Mutter nicht belügen, indem ich bei ihr die nette Tochter spiele. Aber ich will doch nicht herzlos sein und sie in dieser Krankheit alleine lassen.«
     
    Dagmar hat vor einigen Jahren eine Therapie abgeschlossen, in der sie ihrer Mutter die Grausamkeiten verziehen hatte. Doch angesichts deren schwerer Erkrankung wirdsie von den alten Emotionen des kleinen Kindes eingeholt und steht ihnen ratlos gegenüber. Sie möchte sich lieber das Leben nehmen als den Erwartungen der Mutter, der Gesellschaft, der Therapeutin nicht entsprechen zu können. So gerne würde sie jetzt ihre Mutter als liebende Tochter begleiten und kann das nicht, ohne sich selbst zu betrügen. Ihr Körper sagt ihr das eindeutig.
    Mit diesem Beispiel will ich nicht dafür plädieren, die Eltern nicht mit Liebe vor dem Tod zu begleiten; es muß jeder Mensch für sich so entscheiden, wie es ihm richtig erscheint. Doch wenn uns unser Körper so deutlich an unsere Geschichte der einst erlittenen Mißhandlungen erinnert, haben wir keine Wahl, als seine Sprache ernst zu nehmen. Manchmal können fremde Menschen eine Frau viel besser im Todeskampf begleiten, weil sie nicht unter ihr gelitten haben, sie brauchen sich nicht zur Lüge zu zwingen, sie brauchen das nicht mit Depressionen zu bezahlen, sie können ihr Mitgefühl zeigen, ohne sich verstellen zu müssen. Hingegen können sich der Sohn oder die Tochter vergeblich um gute Gefühle bemühen, die unter Umständen hartnäckig ausbleiben. Sie bleiben aus, weil die erwachsenen Kinder immer noch mit allen Fäden ihrer Erwartungen an den Eltern hängen und bei den sterbenden Eltern wenigstens im letzten Moment diese Bejahung erfahren möchten, die sie nie in ihrem Leben in ihrer Gegenwart spürten. Dagmar schreibt:
     
    »Immer wenn ich mit meiner Mutter spreche, fühle ich, wie ein Gift in meinen Körper dringt und ein Geschwür bildet, aber ich darf es nicht

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