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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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seine Umgebung für die Welt an sich und tat alles, um sich in ihr durchzusetzen und um sich mit Hilfe von Diebstählen, Drogen und Gewaltakten der Allmacht der Eltern zu entziehen. Vor dem Gericht sagte er vermutlich ganz wahrheitsgetreu, daß er bei den Vergewaltigungen keinerlei sexuelle Bedürfnisse verspürte, nur das Bedürfnis nach Allmacht. Es ist zu hoffen, daß diese Aussagen die Justiz darüber informieren können, womit sie zu tun hat. Denn vor beinahe dreißig Jahren hatein deutsches Gericht noch beschlossen, den von seiner Mutter seelisch umgebrachten Kindermörder Jürgen Bartsch kastrieren zu lassen, in der Hoffnung, ihn operativ daran zu hindern, seine angeblich zu starken Sexualtriebe an Kindern auszulassen. Welch ein grotesker, unmenschlicher und ignoranter Akt! (vgl. AM 1980)
    Gerichte müßten endlich zur Kenntnis nehmen, daß das Bedürfnis nach Allmacht des einst ohnmächtigen ungeachteten Kindes am Werke ist, wenn ein Mörder serienmäßig Frauen und Kinder umbringt. Das hat mit Sexualität sehr wenig zu tun, es sei denn, daß durch die Inzesterfahrungen die Ohnmacht an sexuelle Erlebnisse gebunden war.
    Und trotz allem stellt sich die Frage: Gab es keinen anderen Ausweg für Patrice Alègre, als zu morden, als immer wieder die Frau mitten in ihrem Wimmern und Stöhnen zu erwürgen? Dem Außenstehenden wird sehr schnell klar, daß er immer wieder die Mutter in den verschiedenen Frauengestalten erwürgen mußte, die ihn zu diesen Qualen als Kind verdammt hatte. Aber er selber konnte das kaum einsehen. Daher brauchte er Opfer. Er behauptet noch heute, daß er seine Mutter liebe. Und weil niemand ihm half, weil er keinen Wissenden Zeugen fand, der ihm ermöglicht und erlaubt hätte, seine Todeswünsche der Mutter gegenüber zuzulassen, sie sich bewußtzumachen und zu verstehen, wucherten sie in ihm ununterbrochen und zwangen ihn, andere Frauen anstelle der Mutter umzubringen. »Ist das so einfach?« werden viele Psychiater fragen. Ja, ich meine, es ist viel einfacher als das, was wir gelernt haben, lernen mußten, um unsere Eltern ehren zu können und den Haß, den sie verdienten, nicht zu spüren. Aber der Haß eines Patrice hätte niemanden getötet, wenn er bewußt erlebt worden wäre. Er entstandaus der so oft gelobten Bindung an seine Mutter — der Bindung, die ihn zum Morden trieb. Nur von der Mutter konnte er als Kind Rettung erwarten, weil er neben seinem Vater in ständiger Todesgefahr schwebte. Wie kann sich ein Kind, das ununterbrochen vom Terror seines Vaters bedroht wurde, leisten, auch noch seine Mutter zu hassen oder zumindest zu sehen, daß es von ihr keine Hilfe erwarten kann? Es mußte sich eine Illusion erschaffen und sich an diese klammern, aber den Preis dieser Illusion bezahlten seine zahlreichen späteren Opfer. Gefühle töten nicht, und das bewußte Erlebnis seiner Enttäuschung über die Mutter, sogar seines Bedürfnisses, sie zu erwürgen, hätte niemanden umgebracht. Es ist das Unterdrücken des Bedürfnisses, das Abspalten sämtlicher negativer Gefühle, die sich unbewußt auf sie richteten, die ihn in seine verhängnisvollen Taten getrieben haben.

II.6  Die Droge – der Betrug des Körpers
     
    Als Kind mußte ich lernen, meine natürlichsten Reaktionen auf Verletzungen, wie Wut, Zorn, Schmerz und Angst, zu unterdrücken, weil mir dafür Strafen gedroht hätten. Später, in der Schulzeit, war ich sogar stolz auf meine Kunst der Beherrschung und Zurückhaltung. Diese Fähigkeit hielt ich für eine Tugend und erwartete sie auch von meinem ersten Kind. Erst nachdem ich mich von dieser Haltung hatte befreien können, wurde es mir möglich, das Leiden eines Kindes zu verstehen, dem man es verbietet, auf Verletzungen in einer adäquaten Weise zu reagieren und den Umgang mit seinen Emotionen in einer wohlwollenden Umgebung auszuprobieren, so daß es später in seinem Leben eine Orientierung in seinen Gefühlen findet, anstatt sie zu fürchten.
    Leider ging es vielen Menschen ähnlich wie mir. Sie durften als Kinder ihre starken Emotionen nicht zeigen, also auch nicht erleben, und sehnten sich später danach. Manchen gelingt es, in den Therapien ihre verdrängten Emotionen zu finden und sie zu erleben, so daß diese sich in bewußte Gefühle verwandeln, die man aus der eigenen Geschichte heraus verstehen kann und nicht mehr zu furchten braucht. Doch andere lehnen diesen Weg für sich ab, weil sie sich mit ihren tragischen Erfahrungen niemandem anvertrauen können oder

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