Die Revolution der Ameisen
um nicht vom Lärm in seiner Konzentration gestört zu werden.
Sie unterhielten sich über die fünf Sinne, und Paul meinte, daß die meisten Menschen sich hauptsächlich auf ihr Sehvermögen verließen, das schätzungsweise 80 Prozent aller Informationen ans Gehirn liefere. Das sei problematisch, denn dadurch entwickle sich das Sehvermögen zu einem Tyrannen, der alle anderen Sinne unterdrücke.
Damit sie sich selbst davon überzeugen konnte, verband er ihr die Augen mit seinem Halstuch und forderte sie auf, verschiedene Gerüche auf seiner ›Duftorgel‹ zu erkennen. Julie ging bereitwillig auf das Spiel ein.
Mit Thymian und Lavendel hatte sie keine Probleme, doch bei Rindsragout, abgetragenen Schuhen und altem Leder war sie überfordert. Doch langsam erwachte ihre Nase, und sie identifizierte Jasmin, Minze und sogar Tomaten.
»Guten Tag, Nase!« sagte sie vor sich hin.
Paul schlug ihr vor, nun auch noch ihren Geschmackssinn mit verbundenen Augen zu testen. Nach der Nase erwachte auch ihr Gaumen, und sie stellte fest, daß es im Grunde nur vier Geschmacksrichtungen gab: bitter, sauer, süß und salzig.
Für die verschiedenen Aromen war natürlich die Nase zuständig. Aufmerksam verfolgte sie den Weg der Nahrung vom Mund über die Speiseröhre in den Magen, wo die Magensäfte sich sofort an die Arbeit machten. Sie lachte vor Überraschung, als es ihr möglich war, sie zu spüren.
»Guten Tag, Magen !«
Ihr Körper war glücklich über das Essen. Nach ihrer Magersucht klammerte er sich verzweifelt an jeden noch so winzigen Happen, aus Angst, daß er ihm wieder geraubt werden könnte, und besonders schien er sich über alles Süße und Fette zu freuen.
Paul schob ihr süße und salzige Kekse, Schokolade, Rosinen, Apfel-und Orangenscheiben in den Mund und erklärte weise:
»Jedes Organ verkümmert, wenn man es nicht ständig benutzt.« Und weil sie immer noch verbundene Augen hatte, küßte er sie rasch auf den Mund. Sie zuckte zusammen, zögerte kurz und stieß ihn dann zurück.
»Entschuldigung«, seufzte Paul.
Julie nahm die Augenbinde ab, noch verlegener als er. »Sei mir bitte nicht böse, aber im Augenblick habe ich andere Dinge im Kopf.«
Sie verließ seinen Stand, und Zoé, die den Zwischenfall beobachtet hatte, folgte ihr. »Magst du keine Männer?«
»Ich verabscheue jeden Hautkontakt. Am liebsten hätte ich Stoßstangen wie ein Auto, um mir alle Leute vom Hals halten zu können, die einem unbedingt die Hand schütteln oder einen Arm um die Schultern legen wollen, ganz zu schweigen von jenen, die einen zur Begrüßung unbedingt küssen wollen, so daß man hinterher ihren Speichel auf der Wange hat!«
Zoé stellte noch einige Fragen und konnte es einfach nicht fassen, als Julie zugab, noch Jungfrau zu sein. Wie war das bei einer so hübschen Neunzehnjährigen nur möglich?
Julie erwiderte, sie lehne sexuelle Kontakte ab, weil sie nicht wie ihre Eltern werden wolle. Sexualität sei nun einmal der erste Schritt in Richtung Partnerschaft und Ehe, und danach versaure man in bürgerlicher Eintönigkeit.
»Bei den Ameisen gibt es die Kaste der Geschlechtslosen«, sagte sie. »Man läßt sie in Ruhe, ohne daß sie als ›alte Jungfern‹ beschimpft werden, und sie leiden auch nicht unter Einsamkeit.«
Zoé legte ihr lachend beide Hände auf die Schultern. »Wir sind aber keine Insekten. Bei uns gibt es keine Geschlechtslosen!«
»Noch nicht, leider!«
»Du vergißt etwas Wesentliches. Die Sexualität dient bei uns nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch dem Genuß. Der Liebesakt ist ein Austausch von Lust.«
Julie verzog zweifelnd den Mund. Im Moment verspürte sie wirklich kein Bedürfnis nach einer Partnerschaft, und noch viel weniger wollte sie Hautkontakt!
135. ENZYKLOPÄDIE
Anti-Ehelosigkeits-Methode: Bis 1920 lösten Bauern in manchen Pyrenäendörfern das Problem, den richtigen Partner zu finden, auf sehr drastische Weise. An einem Abend im Jahr, der sogenannten ›Nacht der Hochzeiten‹, wurden alle sechzehnjährigen Jungen und Mädchen zusammengerufen, wobei man sorgfältig darauf achtete, daß es gleich viele waren.
Am Berghang veranstaltete man ein Festbankett im Freien, und alle Dorfbewohner aßen und tranken nach Herzenslust.
Zu einer bestimmten Stunde brachen die Mädchen auf und versteckten sich im Unterholz. Etwas später machten sich die Burschen auf die Suche nach ihnen. Wer als erster ein Mädchen aufstöberte, dem gehörte es.
Natürlich wurde nach den
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