Die Revolution der Ameisen
zwischen Menschen zu ermöglichen. Anfangs wurde sie belächelt, doch bald hörte man ihr aufmerksam zu, denn in einer Welt, wo es kaum noch einen intensiven Gedankenaustausch gab, sehnte sich jeder nach einem solchen Gerät.
Auch an Julies Stand war nicht viel zu sehen, nur ein großer Ameisenhaufen, den sie in einem Aquarium aus dem Biologiesaal untergebracht hatte. Freiwillige hatten ihr geholfen, tief genug zu graben, um das ganze Nest mitsamt der Königin auszuheben.
Den Revolutionären fehlte es nicht an Unterhaltungsmöglichkeiten. Es gab einen Tischtennisraum, und das Sprachlabor mit seinen vielen Videofilmen diente als Kino. Und überall wurde ›Eleusis‹ gespielt, das in der Enzyklopädie beschriebene Spiel, das sich größter Beliebtheit erfreute, weil es Fantasie und Denkvermögen anregte.
Paul gab sich weiterhin größte Mühe mit den gemeinsamen Mahlzeiten. »Je besser das Essen ist, desto motivierter werden die Revolutionäre sein«, erklärte er und überwachte persönlich die Zubereitung aller Speisen, denen er mit Hilfe seiner exotischen Honigsorten neue Geschmacksnuancen verlieh.
Gedünsteter Honig, eingemachter Honig, Honigpulver, Honigsauce – er probierte alles aus.
In den Vorratskammern gab es genügend Mehl, und er schlug vor, sie sollten selbst Brot backen, weil die Bäckereien für sie ja unerreichbar waren. Ein Mäuerchen wurde niedergerissen, mit dessen Ziegelsteinen man einen Ofen baute. Außerdem schärfte Paul seinen Helfern ein, den Obst-und Gemüsegarten zu pflegen, weil sie frisches Obst und Gemüse brauchen würden, wenn sie lange hierbleiben mußten.
An seinem Gastronomiestand versicherte er jedem Zuhörer, man brauche sich nur auf seinen Geruchssinn zu verlassen, um gute Lebensmittel zu bekommen. Und wenn man ihn begeistert an seinen Honigsäften und an Gemüse schnuppern sah, wußte man genau, daß die Verpflegung der Revolutionäre auch in Zukunft nichts zu wünschen übriglassen würde.
Eine Amazone informierte Julie, ein gewisser Marcel Vaugirard wünsche mit dem Revolutionsführer zu sprechen.
Sie hatte ihm erklärt, so etwas gebe es bei ihnen nicht, aber Julie sei ihre Wortführerin, und nun wollte er sie interviewen.
Sie griff nach dem Handy.
»Hallo, Monsieur Vaugirard, ich wundere mich über Ihren Anruf. Ich dachte, Sie könnten am besten über Dinge schreiben, von denen Sie keine Ahnung haben«, sagte sie ironisch.
Der Journalist wich aus. »Ich wüßte gern, wie viele Demonstranten es sind. Die Polizei spricht von etwa hundert Unruhestiftern, die das Gymnasium besetzt haben, aber ich wollte auch von Ihnen eine geschätzte Personenzahl in Erfahrung bringen.«
»Um dann einen Mittelwert zwischen meinen Angaben und denen der Polizei zu bilden? Diese Mühe können Sie sich sparen. Wir sind genau 521 Personen.«
»Und Sie sind Linksextreme?«
»Keineswegs.«
»Dann tendieren Sie also zum Liberalismus?«
»Auch nicht.«
»Man ist entweder rechts oder links!« behauptete der Journalist gereizt.
»Sie scheinen nur in zwei Richtungen denken zu können«, erwiderte Julie nicht minder gereizt. »Man kann doch nicht nur nach links oder rechts gehen, sondern auch nach vorne oder hinten. Wir gehen nach vorne.«
Marcel Vaugirard dachte lange über diese Auskunft nach, enttäuscht darüber, daß sie nicht mit dem übereinstimmte, was er schon geschrieben hatte.
Zoé, die zugehört hatte, nahm Julie das Telefon aus der Hand.
»Eine politische Partei, der wir uns vielleicht anschließen würden, müßte erst erfunden werden und dann
›Evolutionspartei‹ heißen«, erklärte sie ihm. »Wir wollen nämlich, daß der Mensch sich schneller weiterentwickelt.«
»Also sind Sie doch Linksextreme«, entgegnete der Journalist beruhigt.
Sehr zufrieden mit sich, weil er einmal mehr alles schon im voraus gewußt hatte, legte er auf. Marcel Vaugirard war ein großer Liebhaber von Kreuzworträtseln, und bei ihm mußte alles in Kästchen passen. Ein Artikel war für ihn ein vorgefertigtes Gitter, in das man nur noch einige wenige Angaben einfügen mußte. Er hatte eine ganze Reihe solcher Gitter: für Politik, für Kultur, für ›Gemischtes‹ und auch für Demonstrationen aller Art. Die Überschrift dieses Artikels hatte er schon vor dem Telefonat zu Papier gebracht: »Ein Gymnasium unter Polizeiaufsicht.«
Wütend über dieses Gespräch hatte Julie plötzlich Hunger und schlenderte deshalb zu Pauls Stand, den er möglichst weit vom Podium entfernt aufgeschlagen hatte,
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