Die Revolution der Ameisen
Hübschesten am eifrigsten gesucht, und die durften den ersten Jungen nicht zurückweisen, obwohl es meistens nicht der attraktivste war, der sie eroberte, sondern der schnellste und pfiffigste.
Die langsameren Burschen mußten sich mit weniger verführerischen Mädchen begnügen, denn keinem war erlaubt, allein ins Dorf zurückkehren, sonst wurde er aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen.
Doch die Dunkelheit verhalf auch den Häßlichen zu ihrem Recht, und am nächsten Tag wurden die Hochzeitstermine festgesetzt.
Überflüssig zu betonen, daß es in diesen Dörfern kaum Hagestolze und alte Jungfern gab.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
136. MIT FEUER UND MANDIBEL
Die lange Kohorte besteht jetzt aus 30 000 Ameisen und anderen Insekten.
Sie erreichen Yedi-bei-nakan, aber die Stadt verweigert ihnen den Zutritt. Die Revolutionäre wollen diesen feindseligen Ameisenbau in Brand setzen, aber das erweist sich als unmöglich, denn der Hügel hat eine Kuppel aus schwer entflammbaren grünen Blättern. Prinzessin Nr. 103 beschließt daraufhin, die Umgebung auszunutzen. Ein Felsen überragt die Stadt, und auf diesem Felsen liegt ein großer Stein. Mit Hilfe eines Hebels müßte man diesen schweren runden Stein auf Yedi-bei-nakan schleudern können.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber endlich bewegt sich der Stein von der Stelle und landet tatsächlich auf der grünen Kuppel. Noch nie ist eine so gewaltige Bombe auf eine Stadt mit mehr als 100000 Einwohnern gefallen!
Nun braucht man das Nest – oder was davon noch übrig ist –
nur noch zu besetzen. Widerstand rührt sich nicht mehr.
Am Abend berichtet Nr. 103 in der eroberten Stadt wieder über die seltsamen Finger, und auch diesmal macht sich Nr. 1\1 gewissenhaft Duftnotizen.
MORPHOLOGIE
Die Morphologie der Finger entwickelt sich nicht mehr.
Während das Leben unter Wasser bei den Fröschen nach einer Million Jahren zur Ausbildung von Schwimmhäuten geführt hat, lösen die Finger alle Probleme mit Hilfe künstlicher Körperteile.
Sie haben Schwimmhäute hergestellt, die sie nach Belieben anlegen und abnehmen können, je nachdem, ob sie im Wasser oder an Land sind.
Deshalb brauchen sie sich auch nicht morphologisch ans Wasser anzupassen und eine Million Jahre auf das Wachsen natürlicher Schwimmhäute zu warten.
Um sich in die Lüfte schwingen zu können, benutzen sie sogenannte Flugzeuge, die es den Vögeln gleichtun.
Um sich vor Kälte und Wärme zu schützen, stellen sie verschiedene Kleidungsstücke her, denn ein Fell haben sie ja nicht.
Bei anderen Tierarten dauert es Jahrmillionen, um den eigenen Körper zu verändern, doch die Finger stellen alles künstlich innerhalb weniger Tage her, indem sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Materialien ausnutzen.
Dieses Geschick macht eine morphologische Entwicklung überflüssig.
Auch wir Ameisen entwickeln uns morphologisch schon seit sehr langer Zeit nicht mehr, weil es uns gelingt, unsere Probleme auf andere Weise zu lösen.
Unser Äußeres hat sich seit 100 Millionen Jahren nicht verändert, ein Beweis für unseren Erfolg.
Wir sind vollkommene Geschöpfe.
Während andere lebende Tierarten ständig von Ausrottung durch Feinde, Klima und Krankheiten bedroht sind, bleiben Finger und Ameisen weitgehend davon verschont.
Dank der sozialen Systeme sind beide Arten erfolgreich. Fast alle Neugeborenen erreichen das Erwachsenenalter, und die Lebenserwartung steigt.
Allerdings stehen Finger und Ameisen vor demselben Problem: Weil sie sich nicht mehr an die Umwelt anpassen, wollen sie die Umwelt zwingen, sich ihnen anzupassen.
Sie müssen sich die für sie bequemste Welt ausdenken, aber das ist kein biologisches Problem mehr, sondern ein kulturelles.
In der Ferne setzen die Feuertechniker ihre Experimente fort.
Nr. 5 versucht wieder, auf zwei Beinen zu laufen, wobei sie winzige Zweiglein als Krücken benutzt.
Nr. 7 malt.
Nach ihrem langen Bericht über die Welt der Finger ist die Prinzessin müde. Sie denkt an die Saga, die Nr. 24 verfassen wollte: Die Finger. Nun, da der Prinz beim Brand ums Leben gekommen ist, besteht keine Chance mehr, in Kürze diesen ersten Ameisenroman riechen zu können.
Nachdem Nr. 5 beim Laufen auf zwei Beinen wieder einmal gestürzt ist, schließt sie sich Nr. 103 an und meint, Kunst sei leider sehr fragil und schwer zu transportieren. Nr. 24 hätte das Ei, das er mit seinem Roman füllen wollte, sowieso nicht über weite
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