Die Revolution der Ameisen
wie ein Baum empor, und ihr Empfinden dabei kam der Ekstase nahe.
Der Lehrer wollte sich nicht mit seiner Taubheit abfinden und hielt sich deshalb über neue Heilverfahren auf dem laufenden. Eines Tages gelang es einem besonders fähigen jungen Chirurgen, ihm eine elektronische Prothese in den Schädel zu implantieren, die seine Behinderung vollständig behob. Von da an nahm der alte Gesangslehrer den Lärm der Welt wahr, die wirklichen Töne, die wirkliche Musik. Er hörte die Stimmen der Leute und die Hitparade im Radio. Er hörte Autohupen und Hundegebell, das Prasseln des Regens und das Rauschen der Bäche, das Klappern von Schritten und das Quietschen von Türen. Er hörte Niesen und Lachen, Seufzen und Schluchzen. Und überall in der Stadt hörte er ununterbrochen dröhnende Fernsehgeräte.
Der Tag seiner Heilung, der eigentlich ein Glückstag hätte sein müssen, wurde zu einem Tag der Verzweiflung.
Jankelewitsch stellte fest, daß die realen Töne keineswegs dem ähnelten, was er sich vorgestellt hatte. Alles war nur Krach und Mißklang, alles war schrill, schreierisch, unerträglich. Die Welt war nicht voller Musik, sondern voller Lärm. Eine so große Enttäuschung konnte der alte Mann nicht verkraften. Er dachte sich einen Selbstmord aus, der seinen Idealen entsprach, stieg auf den Glockenturm der Kathedrale Nôtre Dame und legte seinen Kopf unter den Klöppel. Punkt zwölf starb er, hinweggefegt von der Wucht der gewaltigen und musikalisch vollkommenen Glockenschläge.
Julie hatte durch seinen Tod nicht nur einen Freund verloren, sondern auch den Mentor, der ihr geholfen hatte, ihre größte Begabung zu entwickeln.
Gewiß, sie hatte einen anderen Gesangslehrer gefunden, einen von denen, die sich damit begnügten, ihre Schüler Tonleitern üben zu lassen. Er zwang Julie, ihre Stimme auf Register auszudehnen, die für ihren Kehlkopf zuviel waren.
Das war sehr schmerzhaft, und kurz darauf diagnostizierte ein Hals-Nasen-Ohrenarzt Knötchen an ihren Stimmbändern. Der Gesangsunterricht mußte sofort abgebrochen werden, sie wurde operiert und war, während ihre Stimmbänder vernarbten, mehrere Wochen lang völlig stumm. Und danach war es ihr schwergefallen, ihre Stimme auch nur zum Sprechen zu gebrauchen. Seither suchte sie nach einem echten Gesangslehrer, der sie anleiten könnte, so wie Jankelewitsch es getan hatte. Weil sie keinen fand, kapselte sie sich immer mehr von der Welt ab.
Jankelewitsch hatte immer behauptet, wenn man eine Begabung besitze und sie nicht nutze, gleiche man jenen Kaninchen, die nichts Hartes kauten: nach und nach verlängerten sich deren Schneidezähne, würden krumm, wüchsen ohne Ende, bohrten sich durch den Gaumen und schließlich von unten nach oben ins Gehirn. Um diese Gefahr zu veranschaulichen, hatte der Lehrer bei sich zu Hause einen Kaninchenschädel stehen, bei dem die Schneidezähne oben wie zwei Hörner herausragten. Dieses makabre Ding zeigte er gern schlechten Schülern, um sie zum Arbeiten anzuhalten. Er hatte sogar mit roter Tinte auf den Schädel geschrieben: Seine natürliche Begabung nicht zu pflegen ist die allergrößte Sünde.
Da Julie ihre Begabung nun nicht mehr pflegen konnte, wurde sie zunächst sehr aggressiv und litt danach eine Zeitlang an Magersucht, gefolgt von Bulimie, wobei sie kiloweise Gebäck verschlang, mit leerem Blick, Abführ-oder Brechmittel immer griffbereit.
Sie machte keine Hausaufgaben mehr, schlief während des Unterrichts ein, hatte Probleme mit der Atmung und litt bald auch an Asthmaanfällen. Alles, was ihr das Singen Gutes gebracht hatte, wendete sich nun zum Schlechten.
Julies Mutter setzte sich als erste an den Eßtisch.
»Wo wart ihr heute?« fragte sie.
»Wir sind im Wald spazierengegangen«, antwortete der Vater.
»Hat Julie sich dort so aufgeschürft?«
»Sie ist in eine Schlucht gefallen«, erklärte Gaston. »Zum Glück ist nicht allzuviel passiert, aber sie hat sich an der Ferse verletzt. Außerdem hat sie dort unten ein seltsames Buch gefunden …«
Die Mutter interessierte sich aber nur noch für die dampfenden Speisen auf ihrem Teller. »Das könnt ihr mir später erzählen. Essen wir schnell, gebratene Wachteln darf man nicht warten lassen. Sie müssen heiß sein, damit sie schmecken.«
Ein gezielter Gabelstoß ließ aus der Wachtel Dampf aufsteigen, so als würde Luft aus einem Fußball entweichen.
Sie packte den Vogel, saugte ihn durch die Schnabelöffnung aus, brach mit den Fingern die Flügel ab,
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