Die Rosen von Montevideo
Esperanza wieder in ihr Zimmer und bedeutete ihr schweigend, ihr zu folgen. Rosa schlich ihr auf Zehenspitzen nach, eine Mühe, die sie sich eigentlich sparen konnte, denn die Tanten schliefen stets so tief, dass man ihr lautes Schnarchen bis ins Freie hörte. Alejandro wiederum saß meist im Salon und rauchte eine Zigarre.
»Ich hoffe, du bekommst meinetwegen keine Schwierigkeiten«, flüsterte Rosa.
»Lass das mal meine Sorge sein.«
Rosa war einmal mehr über Espes Gelassenheit erstaunt. Obwohl sie nur eine Dienstbotin war, legte sie dennoch die aufrechte Haltung einer Königin an den Tag. Gewiss, dass sie die Vertraute ihrer verstorbenen Mutter gewesen war, unterschied sie rangmäßig von den anderen Frauen, die im Haushalt arbeiteten. Doch es war nicht nur das, sondern ihre Würde, die dazu führte, dass Alejandro ihr nie einen seiner knappen Befehle erteilte und die Tanten lieber die jungen Mädchen herumscheuchten.
Über die marmorne Treppe gelangten sie ins Freie. Ehe sie die Stallungen erreichten, passierten sie den Garten, wie er in vielen der Patio-Häuser angelegt war und wo Blumen, Sträucher und Schlingpflanzen wuchsen. Die Gewächse wurzelten nicht in der Erde, sondern standen in irdenen Gefäßen, hölzernen Kübeln oder durchgesägten Fässern.
Als Rosa den durchdringenden Geruch der Blumen einsog, musste sie an ihre Mutter Valeria Olivares denken. Sie hatte sie nie kennengelernt, weil sie bei ihrer Geburt gestorben war, aber Espe hatte ihr viel von ihr erzählt, so auch, dass sie es geliebt hatte, Blumen zu züchten. Üppig und farbenprächtig seien sie alle gewachsen – nur die Rosen nicht. Die waren bis auf eine einzige allesamt eingegangen, so dass Valeria, die sich so oft nach ihrer Heimat Valencia sehnte, schließlich beschlossen hatte, es nicht länger zu versuchen und stattdessen ihr Kind, so es denn eine Tochter wurde, Rosa zu nennen.
Rosa wurde die Kehle eng. Ob Valeria Olivares diesen Namen noch hatte aussprechen können, ehe sie starb? Ob sie ihr Kind noch in den Händen gehalten, es liebkost hatte? Sie hatte Espe nie danach gefragt, aber sie war sich plötzlich sicher: Valeria Olivares würde nicht gutheißen, dass ihre Tochter den alten Ricardo del Monte heiraten sollte. Stark genug, sich gegen Alejandro durchzusetzen, wäre sie wohl dennoch nicht. Schließlich hatte sie ihn auch gegen ihren Willen nach Montevideo begleiten müssen.
Seit Generationen trieb Alejandros Familie Handel mit der Neuen Welt – schon sein Urgroßvater war oft die Handelsroute entlanggesegelt, die von Sevilla aus über die Kanaren oder die Antillen nach Cartagena in Kolumbien und Portobello in Panama führte. Später hatten die de la Vegas’ enge Geschäftsbeziehungen mit den drei Vizekönigreichen in Südamerika gehalten: Neugranada im Norden, Peru im Westen und die Region um den Río de la Plata im Süden.
Als daraus drei Staaten hervorgingen – Argentinien, Uruguay und Paraguay –, die allesamt auf Unabhängigkeit pochten, ihrem einstigen Mutterland Spanien den Krieg erklärten und auf diese Weise den Handel zum Erliegen brachten, entschied Alejandro de la Vegas, sich von seinem Heimatland loszusagen und in der Neuen Welt sein Glück zu versuchen. In Valencia galt er seitdem als Verräter – in Montevideo, wo er sich niedergelassen hatte, als reicher, angesehener Geschäftsmann. Nur die Mutter war hier so verblüht wie die Rosen …
Der Gedanke an jene Frau, an die nur ein Ölgemälde erinnerte, lenkte Rosa ab. Schon hatten sie die Stallungen erreicht, ohne entdeckt zu werden, und kamen wenige Augenblicke später an die Hintertür.
»Du kennst den Weg zum Hafen?«, fragte Espe knapp.
Rosa nickte, obwohl sie ihn noch nie allein gegangen war. Hätte Espe sie umarmt, hätte sie sich nie überwinden können zu gehen, doch wie so oft blieb diese mit verschränkten Armen vor ihr stehen, und Rosa nahm allen Mut zusammen und trat auf die Straße.
Jetzt – zur Siesta – war sie fast menschenleer. Fliegen umsurrten ihren Kopf. Hunde schliefen im Schatten. Rosa lief hastig die Straße entlang und verlangsamte ihren Schritt erst, als das Haus der de la Vegas’ außer Sichtweite lag. Hier begegnete sie nun doch einigen Menschen, und sie senkte rasch den Blick, um nicht aufzufallen.
Je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto größer wurden ihre Zweifel. Würde Julio wirklich auf ihrer Seite stehen? Und was, wenn sie ihn gar nicht in den Lagerhallen antraf?
Gewiss, sie könnte dort auf ihn
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