Die Rosen von Montevideo
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Prolog
Montevideo 1829
W enn Valeria Olivares die Augen schloss und Erinnerungen an ihre Kindheit beschwor, fühlte sie sich manchmal in ihre katalanische Heimat zurückversetzt. Sie genoss die neckenden Sonnenstrahlen, lauschte dem von den Mauern des Hauses gedämpften Schnauben der Maultiere und Knirschen der Fuhrwerke und sog den eigentümlichen Geruch ein, der in der Luft lag und Valencias Brise glich: Der salzige des Meeres vermischte sich mit dem süßen von Obst und dem erdigen nach Pferdemist. Doch sobald sie die Augen aufschlug, musste sie sich enttäuscht darauf besinnen, dass sie fern der Heimat lebte, und ihr die Stadt, in die es sie verschlagen hatte, fremd geblieben war.
Sie stand im Innenhof des Hauses, wo sie – bereits wenige Wochen nach ihrer Ankunft – Blumen gepflanzt hatte. Sie wuchsen mittlerweile üppig, rochen süßer als Obst und schenkten jenem dunklen Haus, dessen Böden grau und Wände eintönig weiß waren, eine Fülle an Farben. Aber selbst die Blumen konnten sie nicht mit Montevideo versöhnen, und die Nelken, Kamelien und Hortensien täuschten nicht darüber hinweg, dass der einzige Rosenstock verdorrt war.
Valeria blickte auf das armselige Gewächs und sagte zu ihrer treuen Dienerin Esperanza: »Ich werde nicht aufhören, mich nach meiner Heimat zu sehnen.«
In Esperanzas Adern floss das Blut der Indianer Uruguays. Ihre Haut war dunkler als die der Spanier, ihr Blick unergründlicher und ihre Weisheit unerschöpflich. »Ihr müsst Euch Zeit lassen. Es sind erst wenige Jahre …«
Valeria Olivares hob abrupt die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und schüttelte energisch den Kopf. »Nein«, erklärte sie. »Die Zeit facht meine Sehnsucht an, anstatt sie zum Erlöschen zu bringen.«
Sie deutete auf den kleinen Jungen, der nicht weit von ihnen im Patio spielte. Er hatte ihre Locken, wenngleich sein Haar um einige Nuancen heller war, und ihre feinen Züge, obwohl er, anders als sie, glücklich und befreit lächelte. »Ich dachte, es würde alles anders werden, wenn ich hier ein Kind geboren hätte. Aber auch wenn Montevideo Julios Geburtsstadt ist – meine Heimat ist es dennoch nicht.« Sie senkte ihren Blick und strich sich über den deutlich gewölbten Bauch. »Und daran wird sich auch nichts ändern, wenn ich mein zweites Kind geboren habe«, fügte sie leise hinzu.
Esperanza widersprach nicht länger, sondern zuckte die Schultern, indes sich Valeria seufzend zu dem verkrüppelten Rosenstock beugte. Die Erde war feucht, sie hatte die Blumen ausreichend gegossen, die Mauern spendeten Schatten und die Mittagssonne genügend Licht. Warum gingen ausgerechnet ihre Lieblingsblumen ein? War es ein schlechtes Omen, weil auch sie wähnte, hier langsam zu verblühen?
»Vielleicht … vielleicht solltet Ihr häufiger das Haus verlassen und in die Stadt gehen«, schlug Esperanza vor.
Valeria erschauderte beim Gedanken an die vielen fremden Menschen. »In meinem Zustand ist das unmöglich!«, rief sie.
Auch als sie noch nicht schwanger gewesen war, hatte sie sich gescheut, Montevideo zu erforschen. Für ihren Mann Alejandro war es damals ein großes Abenteuer gewesen, hierher aufzubrechen, und er war mühelos heimisch geworden. Voller Eifer hatte er sich auf die Aufgabe gestürzt, sich eine neue Existenz aufzubauen und endlich ein erfolgreicher Kaufmann zu sein, der nicht von seinem Vater gegängelt wurde und im Schatten seiner Brüder stand, der vielmehr seinen Geschäftssinn, seine Skrupellosigkeit und seinen Ehrgeiz ungehindert ausleben konnte. Für ihn war Montevideo eine brodelnde Stadt, eine Stadt mit Zukunft, eine Stadt, in der alle Zeichen auf Neubeginn standen: Überall wurde gebaut, und jeden Tag legten neue Schiffe an, die Auswanderer aus Europa brachten.
Für Valeria war Montevideo hingegen eine Stadt ohne Geschichte. Es gab zu viel, was an ihre militärische Vergangenheit erinnerte, zu wenig, was von Schönheit kündete.
Einzig ihr Blumengarten war schön, von dem Rosenstock abgesehen, der keine Blüte getrieben hatte – zumindest fast keine. Plötzlich fiel Esperanza nämlich auf die Knie, griff in den verdorrten Strauch und deutete auf eine winzige Knospe, die sich hinter den Zweigen versteckt hatte. Sie war noch gänzlich verschlossen und verströmte keinerlei Duft, aber ihre Blütenblätter hatten sich leicht rosig verfärbt.
»Wie es aussieht, waren Eure Bemühungen nicht ganz umsonst.«
Trotz ihres Kummers musste Valeria lächeln.
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