Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
unter dem viele Holzscheite aufgeschichtet waren, die wir von einem trockenen Teil der Insel geholt hatten.
Als der Scheiterhaufen fertig war, sagten die Menschen, die Mama Chia besonders nahegestanden hatten, ein paar Worte zu ihrem Andenken oder trugen Zitate vor, die sie an Mama Chia erinnerten.
Fuji war so von seiner Trauer überwältigt, daß er nicht sprechen konnte; aber seine Frau Mitsu sagte: »Das habe ich von Mama Chia gelernt: Wir können im Leben nicht immer große Dinge tun, aber wir können kleine Dinge mit großer Liebe tun.«
Joseph zitierte Buddha: »Gaben sind etwas Großes; Meditationen und religiöse Übungen schenken Seelenfrieden; wenn man die große Wahrheit begreift, erreicht man das Nirvana; aber das Größte …« — an dieser Stelle begann er zu weinen – »… aber das Größte, was es gibt, sind Liebe und Güte.«
Sachi konnte ihre traurigen Augen nicht von dem Scheiterhaufen abwenden und sagte einfach nur: »Ich liebe dich, Mama Chia.«
Eine andere Frau, die ich nicht kannte, sagte: »Mir hat Mama Chia beigebracht, daß gütige Worte keine Mühe machen und nicht viel Zeit kosten; aber ihr Echo währt ewig.« Dann sank sie auf die Knie und senkte den Kopf zum Gebet.
Als ich an die Reihe kam, fiel mir zuerst überhaupt nichts ein. Ich hatte mir zwar auch etwas zurechtgelegt, was ich sagen wollte, aber ich wußte es nicht mehr. Ein paar Sekunden lang starrte ich schweigend auf den Scheiterhaufen, und vor meinem inneren Auge zog ein Bild nach dem anderen vorüber – wie ich Ruth Johnson auf der Straße kennengelernt hatte, wie wir uns dann auf der Party wiederbegegnet waren und wie sie mich bis zu meiner Genesung gepflegt hatte. Ein längst vergessenes Wort aus dem Matthäusevangelium kam mir in den Sinn: »Ich war hungrig, und du gabst mir zu essen; ich war durstig, und du reichtest mir Wasser; ich war ein Fremder, und du hast mich willkommen geheißen; nackt, und du hast mich bekleidet; krank, und du hast mich getröstet.« Ich sprach diese Sätze. Sie galten wohl für alle Menschen, die sich hier versammelt hatten.
Fuji kam auf mich zu und reichte mir die Fackel. »Mama Chia hat in ihren Anweisungen darum gebeten, daß du den Scheiterhaufen anzündest, Dan, wenn du bis dahin noch hier auf Molokai sein solltest. Sie hat gemeint, du würdest ihr schon einen guten Abschied geben.« Er lächelte traurig.
Ich hob die Fackel. Und ich begriff, daß alles, was Mama Chia mich gelehrt hatte, letzten Endes auf diese eine Erkenntnis hinauslief. Lebe jede Sekunde deines Lebens intensiv – bis zu deinem Tod.
»Lebe wohl, Mama Chia«, sagte ich laut. Ich berührte das trockene Gras und Reisig mit der Fackel, und die Flammen begannen zu knistern und emporzuzüngeln. Sie schlossen Mama Chias Körper, der von Tausenden roter, weißer, rosafarbener und violetter Blütenblätter übersät war, in ihre Arme und verschlangen ihn.
Als der Rauch zum Himmel stieg, trat ich ein paar Schritte zurück, um nicht von der Hitze versengt zu werden. Während die kleine Schar, die sich hier versammelt hatte, schweigend in die Flammen blickte, dachte ich im schwindenden Licht der Abenddämmerung daran zurück, wie gern Mama Chia weise Sprüche zitiert hatte. Aus
heiterem Himmel fiel mir plötzlich ein Ausspruch von George Bernard Shaw ein – Worte, die auch von Mama Chia selbst hätten stammen können –, und ehe ich mich versah, hatte ich sie so laut herausgerufen, daß sie das Knistern und Rauschen des Feuers übertönten und alle Anwesenden sie hören konnten: »Wenn ich sterbe, soll meine Energie ganz und gar aufgebraucht sein –, denn je härter ich arbeite, um so intensiver lebe ich. Ich freue mich am Leben um seiner selbst willen. Für mich ist das Leben keine Kerze, die rasch erlischt. Es ist eine wunderbare Fackel, die ich im Augenblick in der Hand halte, und sie soll so hell brennen wie möglich …« Dann begann meine Stimme zu zittern, und ich konnte nicht mehr weitersprechen.
Auch andere sprachen, wenn der Geist sie dazu inspirierte; aber ich hörte ihre Worte nicht mehr. Ich weinte und ich lachte, wie Mama Chia gelacht hätte. Dann sank ich auf die Knie und senkte den Kopf. Mein Herz war offen, in meinem Geist war Ruhe eingekehrt.
Plötzlich blickte ich auf, denn ich hörte Mama Chias Stimme, so laut und deutlich, als stünde sie vor mir. Alle anderen standen immer noch mit gesenkten Köpfen da oder blickten unverwandt in die Flammen. Da wurde mir klar, daß diese Worte nur in den
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