Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
dessen Gräber nicht markiert waren – einen Ort rastloser Seelen.
Mir sträubten sich die Nackenhaare. Mein Basis-Selbst flüsterte mir zu: Nichts wie weg hier! Und zwar sofort .
Als die kalte, wohlgeformte Gestalt näher heranschwebte, spürte ich, daß sie keine Macht hatte außer der, Menschen Angst einzujagen und sie zu verführen. Doch darauf war ich vorbereitet: Ich war durch die Hölle gegangen, und weder Angst noch Verführung würden
je wieder die gleiche Macht über mich haben wie früher. »Du kriegst mich nicht«, sagte ich in bestimmtem Ton.
Ich zwang mich, ganz aufzuwachen. Langsam verließ ich den Friedhof, ohne zurückzuschauen. Mir war bewußt, daß die Frauengestalt mir dicht auf den Fersen folgte.
Irgendwann spürte ich, daß sie die Verfolgung aufgab und sich zurückzog. Trotzdem wanderte ich die ganze Nacht weiter. Mich beunruhigte noch etwas anderes. Ich hatte das Gefühl, alle Mosaiksteine bereits zu haben und sie nur noch zusammensetzen zu müssen.
Ein Satz aus Mama Chias Rätsel fiel mir ein: »Wie oben, so unten.« Ich war tatsächlich »oben« im Gebirge und »unten« in der Stadt gewesen, »über der See« und »unter Wasser«. Und etwas war überall gleich gewesen. Oben wie unten. Denn es war immer ich, der dort war. Der Schatz lag nicht an einem dieser verschiedenen Orte verborgen, sondern überall. Mama Chia hatte mir die Antwort schon verraten: Der Schatz lag in meinem Inneren – er war mir so nah wie mein eigenes Herz.
Das war mehr als nur eine intellektuelle Einsicht. Es traf mich mit überwältigender Macht – es war eine Erkenntnis, die mich in Ekstase versetzte. Ein paar Sekunden lang war ich mir meines Körpers gar nicht mehr bewußt. Ich sank in mich zusammen und fiel auf das feuchte Laub. Ich hatte den Schatz gefunden – das wichtigste aller Geheimnisse! Eine Energiewelle stieg in mir empor. Am liebsten hätte ich geweint und getanzt!
Doch im nächsten Augenblick wich die Ekstase schon wieder einem anderen Gefühl: der Empfindung, etwas verloren zu haben. Und ich wußte plötzlich, daß Mama Chia im Sterben lag. »Nein!« rief ich in den Wald hinein. »Nein! Noch nicht! Bitte warte auf mich!«
Ich sprang auf und rannte los.
22
DIE FACKEL DES LEBENS
Wahre Lehrer sind wie Brücken. Sie fordern ihre Schüler auf,
sie zu überqueren; und wenn sie ihnen den Übergang erleichtert
haben, stürzen sie freudig in sich zusammen und ermutigen ihre
Schüler, sich ihre eigenen Brücken zu bauen.
NIKOS KAZANTZAKIS
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich rannte, Anhöhen hinaufkletterte, durch dichtes Gesträuch kroch und wieder rannte. Schlammverkrustet, voller Kratzer und blauer Flecken, näherte ich mich allmählich der Hütte. Ein heftiger Regen wusch mir den Schmutz und den Schweiß vom Körper. Ungefähr zwei Stunden nach dem Sonnenaufgang erreichte ich Mama Chias Hütte, stolperte und fiel am Fuß ihrer Treppe zu Boden.
Fuji, Mitsu, Joseph und Sarah kamen heraus. Joseph half mir hinein. Mama Chia lag friedlich auf ihrem Futonbett, von Blumen eingerahmt.
Meine Freunde stützten mich, dann traten sie ein paar Schritte zurück. Ich ging zu Mama Chia, kniete neben ihrem Bett nieder und senkte den Kopf. Tränen strömten mir über die Wangen. Ich lehnte meine Stirn an ihren Arm. Er fühlte sich kühl an, so kühl.
Zuerst konnte ich nicht sprechen; ich streichelte nur ihr Gesicht, sagte ihr Lebewohl und schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Mitsu saß in der Nähe, tröstete Sachi und strich ihr beruhigend über das Gesicht. Socrates lag in der seligen Unwissenheit des Kindseins neben seiner Schwester und schlief.
Joseph sah aus wie ein trauriger Don Quixote. Seine Augen blickten düster; eine Hand hatte er auf Sarahs Schulter gelegt, die sich in ihrem Kummer leise hin und her wiegte.
Stille lag über dem Tal, eine Trauer, die auch aus den Rufen Redbirds, des Apapane, klang. Heute nacht hatte eine ganz besondere Frau diese Erde verlassen. Selbst die Vögel trauerten um sie.
In diesem Augenblick setzte der Apapane sich aufs Fenstersims, legte den Kopf schief und musterte Mama Chia. Vögel stoßen einen ganz besonderen Schrei aus, wenn sie traurig sind. An diesem Morgen hörten wir ihn – ein ungewohnter Klang. Redbird flog zu Mama Chia hin, setzte sich neben sie, gab wieder diesen Ruf von sich und flog dann davon – so wie ihre Seele.
Ich verließ die Hütte und ging einfach in die feuchte Wärme hinein, in Richtung Osten. Joseph begleitete mich.
Weitere Kostenlose Bücher