Die Runen der Erde - Covenant 07
pulsierende Wärme des Holzes. Seine Kraft, seine Möglichkeiten durchfluteten ihren Körper als heiße Woge. Zugleich weckten sie Erinnerungen an Andelain: an üppig begrünte Hügel, die mit Wildblumen und Aliantha geschmückt waren; an die stolze Pracht weit ausgreifender Gildenbäume mit dichten Kronen aus goldenen Blättern; an murmelnde Bäche und kühle Eichenhaine und süß duftende Wildrosenbüsche, pulsierend von Erdkraft.
Sie spürte, dass sie das Land sah, wie es einst im Herzen seines Schöpfers existiert hatte, bevor Lord Foul im Bogen der Zeit gefangen gesetzt worden war; bevor Foul das Land mit verborgenen Zaubern wie dem Weltübel-Stein korrumpiert und sich der Dienste von grausamen Geschöpfen wie den Wüterichen versichert hatte. Und sie spürte auch die Trauer des Schöpfers. Nachdem er den Bogen – die Struktur aus Anfang und Ende, die das Leben erst ermöglichte – geschaffen hatte, konnte er Ereignisse innerhalb dieser Struktur nicht mehr verändern, ohne sie zu zerstören. Und so verschaffte Lord Fouls Einkerkerung ihm erst recht die Möglichkeit, das Werk des Schöpfers zu zerstören.
Kostbarkeiten wie der Stab des Gesetzes waren erschaffen worden, damit die Bewohner des Landes ein Mittel hatten, sich selbst gegen Lord Foul zur Wehr zu setzen; damit sie für den Erhalt der Schönheit des Landes kämpfen konnten. Zumindest in diesem Augenblick, in dem sie den Stab erstmals seit vielen Jahren wieder in den Händen hielt, fühlte Linden sich ihrer gewaltigen Aufgabe gewachsen. Wie Covenants Ring passte der Stab des Gesetzes zu ihr. Sie verstand seinen Gebrauch instinktiv; traute sich zu, ihn einzusetzen. Seine natürliche Richtigkeit schien Heilkraft in jede Zelle, jeden Impuls ihres Wesens zu senden.
Dass sie weinte, wurde ihr erst bewusst, als sie dem Wegwahrer danken wollte und dabei feststellte, dass sie nichts deutlich sehen konnte. Tränen verschleierten ihren Blick, verwandelten die Lichtquellen in tröstlich leuchtende Globen und ließen die Umrisse aller sie umgebenden Gestalten verschwimmen.
Als sie sich die Tränen aus den Augen geblinzelt hatte, stellte sie mit Erstaunen fest, dass der Bewahrer des Stabes nicht mehr vor ihr stand. Der Wegwahrer war zurückgetreten, hatte Platz für Anele gemacht.
Der Alte stand ihr mit nach dem Stab ausgestreckten Händen gegenüber, als beabsichtige er, ihn ihr mit Gewalt zu entreißen.
Liand und Mahrtiir waren hinter ihm, warteten ab, was er tun würde, und hielten sich zum Eingreifen bereit, aber ihnen widerstrebte sichtlich, ihn schon jetzt an irgendetwas zu hindern.
Aneles Hände zitterten, während er den Stab zu betrachten schien, und in seinen blinden Augen stand ein sehnsüchtiger Ausdruck. Wie viele Jahrzehnte mochten vergangen sein, seit er zuletzt in Gegenwart seines Geburtsrechts gestanden hatte? Wie viele Beschuldigungen, wie viel Selbsthass hatte er erduldet, bevor er in Wahnsinn verfallen war?
Die Berührung des Stabes konnte vielleicht auch ihn heilen.
Dennoch umschloss er das makellos glatte Holz nicht mit den Händen; berührte es nicht einmal mit den Fingerspitzen. Stattdessen stand er wie gelähmt da, während Linden ihn bemitleidete und alle Anwesenden den Atem anzuhalten schienen. Dann ließ er zitternd die Arme sinken.
Mit schwacher Stimme murmelte er unsicher: »Ich bin solchen Staunens unwürdig. Der Tag ist noch nicht gekommen, an dem ich wieder heil sein darf.« Ein Schluchzen schnürte ihm die Kehle zu. Nachdem er es hinuntergeschluckt hatte, murmelte er: »Bis dahin muss ich bleiben, wie ich bin. Trauere nicht um mich.« Die Anstrengung, die ihn diese bewusste Ablehnung gekostet hatte, sprach aus seiner verzweifelten Stimme. »Sei versichert, dass ich zufrieden bin, den Stab in deiner Obhut zu wissen.«
Dann wandte er sich ab und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Linden hatte feuchte Augen, während sie den Alten beobachtete. Mahrtiir, der zu stolz war, um sich Trauer anmerken zu lassen, machte ein finsteres Gesicht; aber seine Art war sanft, als er Anele zu seinem Platz zurückbegleitete und ihm eine Schale mit Vitrim an die Lippen hielt.
Eine Zeit lang konnte Linden ihre Tränen nicht zurückhalten.
Der Tag ist noch nicht gekommen ...
Sie glaubte ihm; er hatte keine Falschheit in sich. Aber die Vorstellung, er müsse so bleiben, wie er war, schmerzte sie mehr, als sie ausdrücken konnte. Der Stab des Gesetzes verlieh ihr die Macht, jegliche Heilung zu bewirken, deren Anele bedurfte. Trotzdem hatte
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