Die Runen der Erde - Covenant 07
er Joan mit Barton Lytton ins County Hospital vorausgeschickt, und als die beiden dort angekommen waren, war Joan geistesgestört gewesen. Linden hatte Lytton natürlich gefragt, was er mit ihr angestellt habe, und nachdrücklich auf Auskunft bestanden, aber er hatte ihr nichts erzählt.
»Und ihr Zustand hat sich weiter verschlimmert«, fuhr Linden fort. »Sie ist hektischer geworden. Hysterisch. Sie hat sich öfter geschlagen. Manchmal hat sie das Essen verweigert, hat tagelang gehungert. Sie hat sich so wütend gegen uns gewehrt, dass drei Pfleger und eine Schwester nötig waren, um sie an einen Tropf zu hängen. Sie verlor Besorgnis erregende Mengen Blut.«
»Was hat sich geändert?«, wiederholte Roger. »Was haben Sie getan?«
Linden zögerte am Rande von Risiken, die sie nicht hatte eingehen wollen. Die Luft in Joans Zimmer schien plötzlich und ohne Vorwarnung unheilschwanger zu sein. Wie viel von der Wahrheit durfte sie diesem unfertigen, törichten jungen Mann offenbaren?
Aber dann gab sie sich entschlossen einen Ruck und beantwortete seine Frage direkt. »Vor einem Vierteljahr habe ich ihr ihren Ehering zurückgegeben.« Ohne seinem Blick auszuweichen, fasste Linden an den Kragen von Joans Nachthemd und zog ihn so beiseite, dass die dünne Silberkette um ihren Hals sichtbar wurde. Am Ende der Kette, noch im Nachthemd verborgen, baumelte ein Ehering aus Weißgold. Joan war so abgemagert, dass sie den Ring an keinem Finger hätte tragen können.
Rogers Lächeln deutete plötzliche Begierde an. »Ich bin beeindruckt, Doktor Avery. Das war offenbar die richtige Therapie. Aber ich hätte nicht gedacht ...« Er verstummte, statt zu sagen, dass er ihr eine derartige Einsicht nicht zugetraut hätte. »Wie sind Sie darauf gekommen? Was hat Sie darauf gebracht?«
Linden, die nun nicht mehr zurückkonnte, zuckte mit den Schultern. »Das ist mir eines Nachts einfach so eingefallen. Ich weiß nicht, wie viel Sie über die letzte Zeit im Leben Ihres Vaters wissen. In den zwei Wochen vor seinem Tod hat er Joan gepflegt.« Auf der Haven-Farm. »Sie war schon nicht mehr bei klarem Verstand, aber es war dennoch anders als jetzt. In gewisser Weise war ihr Zustand viel schlimmer, praktisch rasend. Beruhigen konnte sie nur der Geschmack des Blutes Ihres Vaters. Wenn er sie füttern oder sauber machen musste, hat er sich von ihr kratzen lassen, bis er blutete. Konnte sie dann Blut von seiner Haut saugen, war sie fast wieder normal – zumindest für kurze Zeit.« Unter Lindens professioneller Nüchternheit ließ ihr geheimer Zorn sie hoffen, es werde ihr noch gelingen, Roger Covenant zu entsetzen oder zu schockieren. »Jetzt verletzt sie sich selbst, Mr. Covenant. Sie will sich aus irgendeinem Grund Schmerzen zufügen. Sie braucht diese Schmerzen. Ich weiß nicht, weshalb. Als Bestrafung? Für ihre Rolle bei der Ermordung ihres Ehemanns? Es sieht jedenfalls so aus, als bestrafe sie sich selbst. Und sie duldet keinen Verband. Ihr eigenes Bluten scheint sie zu trösten, wie eine Art Wiederherstellung. Es hilft ihr, ein bisschen ins Gleichgewicht zu kommen. Ich habe versucht, mir etwas einfallen zu lassen, das diesen Zustand aufrechterhalten könnte. Wenn Wiederherstellung sie beruhigen konnte, sollte sie mehr davon bekommen. Ihr Ring, das Symbol ihrer Ehe, war das Einzige, was ich ihr zurückgeben konnte.«
An jenem Tag hatte sie Joan die Kette mit ihrem eigenen Ehering voller Beklemmung um den Hals gehängt. Die Sprache dieser Geste hätte so leicht missverstanden werden können; statt als Symbol für Liebe und Zuneigung hätte sie als Erinnerung an Joans Schuld aufgefasst werden können. Aber sobald der Ring ihre Haut berührt hatte, war Joan in ihre vergleichsweise gefügige Trance verfallen.
Seit damals hatte Linden oft gefürchtet, sie habe einen schrecklichen Fehler gemacht: Vielleicht war es genau die Erinnerung an ihre Schuld, die Joan beruhigte; vielleicht bestand ihre Katatonie fort, weil Joan durch den Kontakt mit Weißgold völlig besiegt worden war. Trotzdem hatte sie ihr den Ring nicht mehr abgenommen. Joans gegenwärtige Trance war alles, was sie noch am Leben erhielt. Ihre gewalttätige Verzweiflung hätte sie nicht mehr sehr viel länger überleben können.
Roger nickte, als finde er Lindens Erklärung völlig vernünftig. »Gut gemacht. Wirklich, ich bin beeindruckt.« Zum ersten Mal, seit Linden ihn kennengelernt hatte – vor kaum einer Stunde –, wirkte er zufrieden. »Ich verstehe, weshalb es Ihnen
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