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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hatte.
    »König Karl ist nicht gesund«, nahm sie den Faden wieder auf. »Das war er noch nie. Und offen gesagt wissen wir alle, daß ihm noch höchstens zwei, drei Jahre bleiben. Da Friedrich abgedankt hat, wird sein Zweitältester Sohn, Prinz Waldo, auf den Thron kommen. Waldo ist kein Gegner der Vereinigung. Er sieht vielmehr gewisse Vorteile darin. Sich dagegen zu stemmen wäre mit vielen Risiken verbunden – vor allem würde ein Krieg drohen, den wir verlieren würden. Profitieren könnten nur die Waffenhersteller und ihresgleichen.« Aus ihren Augen blitzte auf einmal Verachtung.
    »Prinzessin Gisela«, mahnte er sachte.
    »Auf sie wollte ich gerade zu sprechen kommen. Friedrich war für die Unabhängigkeit, selbst für den Preis eines Kriegs. Viele von uns dachten ähnlich wie er, insbesondere am und um den Hof.«
    »Aber Waldo nicht? Er hätte doch gewiß am meisten zu verlieren!«
    »Die Menschen haben die verschiedensten Auffassungen von Vaterlandsliebe, Sir Oliver. Die einen verstehen darunter den Kampf um die Unabhängigkeit und würden dafür sogar ihr Leben opfern.« Sie sah ihm unverwandt in die Augen, beobachtete seine Reaktionen. »Für Königin Ulrike besteht sie in einer gewissen Lebensweise: Es geht ihr darum, Selbstbeherrschung, Willensstärke zu beweisen, im ganzen Land einen Ehrenkodex durchzusetzen, der ihr heilig ist. Waldo wiederum will, daß seine Untertanen täglich Brot auf dem Tisch haben und ohne Angst in ihren Betten schlafen können. Meiner Meinung möchte er auch dafür sorgen, daß sie lesen und schreiben können, woran sie auch immer glauben – aber vielleicht wäre das etwas zuviel verlangt.« In ihren grünen Augen schimmerte unergründliche Trauer. »Niemand kann alles haben. Aber für meine Begriffe hat Waldo noch die realistischsten Vorstellungen. Er wird nicht versuchen, sich gegen eine, wie er spürt, unaufhaltsame Flutwelle zu stemmen, und uns alle in die Tiefe reißen.«
    »Und Gisela?« fragte Rathbone erneut, um nicht nur ihr, sondern auch sein Augenmerk auf das Thema zu lenken.
    Ihre Züge spannten sich. »Gisela kennt keine Vaterlandsliebe! Sonst hätte sie nie versucht, Königin zu werden. Sie wollte die Krone für sich, aber nicht um des Volkes, der Unabhängigkeit, der Vereinigung oder sonstiger nationaler Ziele willen. Es ging ihr ausschließlich um den Glanz.«
    »Sie mögen sie nicht«, stellte Rathbone gelassen fest.
    »Ich verabscheue sie!« rief sie mit einem Lachen, das ihren unversöhnlichen Zorn nicht ganz zu verdecken vermochte.
    »Aber das tut nichts zur Sache. Das, was ich sage, wird deswegen nicht bestätigt oder entwertet…«
    »Aber es wird die Geschworenen beeinflussen. Sie werden vielleicht denken, es stecke Neid dahinter.« Sie verstummte für einen Moment.
    Rathbone wartete. Kein Laut drang vom Vorzimmer ins Büro; die Droschken auf der Straße ratterten wie gehabt vorbei.
    »Sie haben recht«, räumte die Gräfin schließlich ein. »Wie schrecklich, daß man sich auch mit einer solch banalen Logik abgeben muß, aber ich sehe ein, daß das nötig ist.«
    »Zurück zu Gisela, bitte. Warum sollte sie den Wunsch haben, Friedrich zu ermorden? Doch nicht, weil er für die Unabhängigkeit war, und sei es auf Kosten eines Krieges?«
    »Nein, und indirekt doch.«
    »Aha. Könnten Sie sich bitte näher erklären?«
    »Ich versuche es ja!« Ungeduld blitzte in ihren Augen auf.
    »Es gibt im Land ernstzunehmende Strömungen, die zum Krieg für die Unabhängigkeit bereit sind. Sie brauchen nur noch einen Führer, um den sie sich scharen…«
    »Ich verstehe! Friedrich, der eigentliche Kronprinz. Aber er hat doch abgedankt und lebt im Exil!«
    Sie beugte sich vor. Ihr Gesicht verriet ihre Erregung. »Aber er hätte zurückkehren können.«
    »Ach?« Rathbone blieb skeptisch. »Und Waldo? Und die Königin?«
    »Darum geht es ja!« rief sie triumphierend. »Waldo hätte sich dagegen gewehrt – nicht um der Krone willen, sondern um einen Krieg zu verhindern, sei es mit Preußen, sei es mit jeder anderen Macht, die sich uns einverleiben will. Die Königin dagegen hätte sich um die Unabhängigkeit willen mit Friedrich verbündet.«
    »Dann hätte Gisela nach Friedrichs Tod Königin werden können«, bemerkte Rathbone. »Haben Sie nicht gesagt, daß sie darauf aus war?«
    Zorah funkelte ihn mit ihren grünen Augen an. Ihre Züge verrieten mühsam bezähmte Ungeduld. »Die Königin hätte Gisela nie im Land geduldet. Friedrich hätte ohne seine Frau

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