Die russische Herzogin
sagen sollen?, fragte sich Evelyn stumm. Wera war Eugen über den Tod hinaus treu, mehr noch, mit jedem Jahr war ihre Verklärung des verstorbenen Ehemanns gewachsen. Sie machte zu Ollys Verdruss keine Anstalten, Ausschau nach einem neuen Mann zu halten. Statt sich hübsch herzurichten und sich unter potentiellen Kandidaten umzuschauen, hatte Wera vor ein paar Monaten sogar ihre Haare abgeschnitten!
»Es ist praktischer so«, hatte sie schulterzuckend gesagt.
Olly, die insgeheim so sehr auf einen neuen Schwiegersohn und einen männlichen Nachfolger hoffte, war entsetzt gewesen und hatte zwei Tage lang kein Wort mit der Tochter gesprochen.
Evelyn fand, dass die neue Frisur der jungen Herzogin besser stand als jede andere zuvor. Wera musste man eben nehmen, wie sie war, das war schon immer so gewesen.
»Wenn ich an die großen Tafelrunden vergangener Tage denke, dreißig, vierzig fröhliche Menschen an einem Tisch – das waren noch Zeiten!«, seufzte Wilhelm leise. »Aber ich möchte nicht klagen. Vielmehr bin ich Ihnen sehr dankbar, dass ich heute Abend hier sein darf«, fügte er an Olly gewandt hinzu.
Eve lächelte den alten Wegbegleiter an. Es kam öfter bei ihnen vor, dass der eine aussprach, was der andere dachte. Wie in einer Familie, in der jeder die Eigenheiten des anderen wie seine eigenen kannte.
Während Olly dem Dienstmädchen das Zeichen gab, den ersten Gang aufzutragen, verlor sich Eve erneut in ihren Reminiszenzen.
Begonnenhatte die Unglückssträhne im Jahr 1880 , als Wilys kleiner Sohn Ulrich im Alter von sechs Monaten starb. Wera, die den Eltern während der Krankheit ihres Sohnes täglich zur Seite gestanden hatte, war untröstlich gewesen. »Wie Klein-Egi!« Die Erinnerung an den Tod ihres eigenen Sohnes war aufgewallt wie ein schlecht gelöschtes Feuer, in das frisches Öl gegossen wurde. Bei der Leichenfeier war sie ohnmächtig zusammengebrochen. Pauline, die kleine Tochter von Wily und Marie, hatte panisch geschrien aus lauter Angst, noch jemanden sterben zu sehen.
Zeit, sich von dem Unglück zu erholen, war der Familie nicht vergönnt gewesen, denn die nächste Katastrophe folgte nur ein Jahr später, dieses Mal allerdings in St. Petersburg: Eine Bombe vor der Auferstehungskirche riss dem Zaren beide Beine ab, er starb unter jämmerlichen Umständen. Alle reagierten erschüttert auf die Todesnachricht, am tiefsten getroffen war jedoch Olly.
»Warum dieser Hass auf uns Romanows?«, hatte sie wieder und wieder gefragt. Mit Sascha starb auch ein Teil von ihr. Noch immer bemühte sie sich um eine aufrechte Haltung, noch immer ging sie ihren Pflichten nach, aber jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, wie viel Kraft die Königin diese Zurschaustellung von Contenance und Pflichterfüllung kostete. Immer öfter wurde sie von schweren Krankheiten heimgesucht: eine Lungenentzündung, von der sie sich monatelang nur schwer erholte. Beklemmungen in der Herzgegend. Das Essen fiel ihr auch schwer, nichts erweckte ihren Appetit, nicht einmal ihre russischen Lieblingsspeisen. Manchmal kam es Evelyn so vor, als sehnte Olly den Tod herbei.
Das Jahr 1882 war vielleicht das schlimmste von allen. Im April gebar Wilys Frau Marie ein totes Kind, kurz darauf starb sie selbst im Wochenbett. Wily war danach ein gebrochener Mann, der von niemandem Trost annahm. Nicht von seiner Mutter, nicht von Olly oder Karl, und auch von Wera nicht, die dazu auch nicht fähig gewesen wäre.
Evelyn schloss für einen Moment die Augen, um für den zukünftigen König von Württemberg und seine kleine Tochter zu beten. Mit wem verbrachte Wily wohl den Abend? Olly und Wera hatten ihnund die kleine Pauline eingeladen, doch er hatte nicht einmal geantwortet.
»Täusche ich mich oder ertönt von irgendwoher Klavierspiel?«, sagte Olly und riss Eve damit aus ihren Gedanken. »Was ist das nur für eine Melodie? Sie kommt mir so bekannt vor …«
»Einige der Hofdamen haben um Erlaubnis gebeten, im Roten Salon feiern zu dürfen«, antwortete Evelyn. »Erinnern Sie sich, Hoheit? Ich habe Ihnen schon vor zwei Wochen davon erzählt.«
»Oh«, sagte die Königin und wirkte unschlüssig. »Warum haben wir die Damen nicht an unsere Tafel geladen? Dann könnten wir nun auch der Musik lauschen.«
Evelyn verkniff sich ein Seufzen. Genau das hatte sie ihrer Herrin vorgeschlagen, war dabei jedoch auf Ablehnung gestoßen.
»Als feststand, dass wir ohne Karl den Jahreswechsel begehen, hast du einfach beschlossen, auf Musik zu
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