Die russische Herzogin
vom Brotkorb zu bedienen, solange das Essen nicht begonnen hatte. Auch im Alter war die Königin noch eine sehr attraktive Frau mit dichtem Haar, glatter Haut und einer Figur, um die Evelyn sie beneidete.
Die beiden Mädchen hörten ihrer Großmutter unaufmerksam zu, in Elsas Augen blitzte schon wieder der Schalk, so dass sich Eve fragte, was die Zwillinge als Nächstes anstellen würden. Es sah nicht danach aus, als würde sich die Mutter der Mädchen einmischen. Vielmehr linste Wera ebenfalls so hungrig auf den Brotkorb, dass Eve befürchtete, sie würde es ihren Töchtern gleichtun und damit Ollys Erziehungsversuch zunichtemachen.
»Wie die Zeit vergeht«, sagte Wilhelm von Spitzemberg, der neben ihr saß. »Es ist noch gar nicht so lange her, dass Herzogin Wera selbst wie ein Wildfang um den Tisch herumtanzte.«
»Noch nicht lange her? Ich werde im nächsten Jahr dreißig, lieber Wilhelm!« Wera lachte. »Aber bitte, wenn ihr unbedingt die alte Leier spielen wollt – wer von euch möchte die Geschichte wiedergeben, wie ich kurz nach meiner Ankunft zum ersten Mal Maultaschen aß und dabei ein mittelgroßes Chaos verursachte? Sie, lieber Wilhelm, oder doch lieber du, Evelyn? Und vergesst nicht die vielen Glaskaraffen, die in meiner Anwesenheit stets zu Bruch gingen!«
Plötzlich waren die Zwillinge ganz Ohr, wie immer, wenn es um die Untaten anderer ging und nicht um ihre eigenen.
»Sagen wir mal so … Sie waren das quicklebendigste Kind, das mir je unter die Augen kam, liebe Herzogin.« Wilhelm schmunzelte. »Vielleicht ist das der Grund dafür, dass uns Ihre Kinderjahre so sehr im Gedächtnis geblieben sind.«
Alle lachten, auch Evelyn. Auf einmal spürte sie eine Leichtigkeit in sich, die sie für den Tag angemessener empfand als die vorangegangene Melancholie.
Das hier war ihre Familie. Seit über dreißig Jahren liebte, fühlte und litt sie mit den Königskindern und wurde dafür von ihnen geliebt und geschätzt.
Sieerinnerte sich noch so genau daran, wie sie der bildschönen Prinzessin Olga im Jahr 1851 vorgestellt worden war! Blutjung waren sie beide gewesen, und nun waren sie gemeinsam alt geworden: die Königin einundsechzig, sie selbst auch schon dreiundfünfzig Jahre alt.
Ihre eigenen Bedürfnisse hatte sie stets hintangestellt. Es war ihr nicht schwergefallen, denn das war die ihr von Gott erteilte Aufgabe. Olly brauchte sie, heute genauso wie gestern.
Und Wera war immer auch ein bisschen ihr Kind gewesen, genauso wie die Zwillinge auch ein wenig ihre Enkelkinder waren. Sieben Jahre waren die beiden inzwischen. Elsa hatte himmelblaue Augen und das einnehmende Wesen ihres Vaters, während Olga zurückhaltender war, aber nicht minder geneigt, bei Streichen jeglicher Art mitzumachen.
»Wenn ihr beim Essen brav seid, dürft ihr nachher beim Bleigießen das erste Lot ins Wasser werfen. Wer weiß – womöglich taucht aus den Fluten ein kleines Pferdchen auf?« Wera lächelte ihre Töchter geheimnisvoll an.
»Ein Pony, ein Pony!«, riefen beide Mädchen und klatschten in die Hände.
Evelyn schmunzelte. Zum russisch-orthodoxen Weihnachtsfest am siebten Januar sollten die beiden Mädchen ihr erstes eigenes Pferd bekommen. Ob es der Herzogin allerdings gelang, das Geheimnis bis dahin zu wahren, bezweifelte Eve immer mehr. Wera selbst war völlig vernarrt in die rassigen Ponys, die Cäsar Graf von Beroldingen schon vor Wochen für die Kinder ausgesucht hatte und die nun ungeduldig im Stall auf ihre neuen jungen Besitzer warteten.
»Und was, wenn der Bleiklumpen wie ein Ziegenbock aussieht?«, sagte Eve belustigt zu den Zwillingen, deren Gesichter sich daraufhin zu einer Grimasse verzogen.
»Dann setzen wir ihm einen Sattel auf und reiten eben ihn. Das wird ein Spaß, nicht wahr, Kinder?«, antwortete Wera lachend. Und schon strahlten auch die Mädchen wieder.
Wera hatte wirklich unerschütterlich gute Laune. Evelyn konnte sichnicht daran erinnern, wann sie die junge Herzogin das letzte Mal mürrisch erlebt hatte, immer war sie zufrieden und frohen Mutes. Bewundernswert.
»Das neue Jahr wird ein gutes«, sagte Wera nun voller Inbrunst, als wollte sie Evelyns Gedankengänge noch verstärken. »Ich spüre es ganz tief in mir drinnen. Schließlich feiern Eugen und ich unseren zehnjährigen Hochzeitstag, allein das ist ein Grund, frohgestimmt zu sein!« Trotzig schaute sie in die Runde, als erwarte sie kritischen Widerspruch.
Doch niemand sagte etwas, alle lächelten vage.
Was hätten sie auch
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