Die Saat - Ray, F: Saat
schon längst unter den bunten Fahnen in der Menge verschwunden.
Fast zehn Stunden und unzählige Fahrten später steuert Isaak Mthethwa den Wagen mit einer Hand, lässt ihn langsam in Richtung Zentrale rollen. Es ist längst dunkel, und er ist müde. Sehr müde. Der Morgen liegt eine Ewigkeit zurück, aber er spürt immer noch ihren Blick, der sich in seine Augenbohrt. Er hätte es nicht sagen sollen. Es steht ihm ja gar nicht zu. Außerdem hat er ja gar nicht verstanden, worüber sie gesprochen haben. Es war nur so ein Gefühl … Er muss nach Hause, etwas essen, vielleicht hat Miriam von nebenan etwas gekocht und ihm ein bisschen aufgehoben.
Er nimmt den dunklen Wagen, der sich langsam auf seine Höhe schiebt, zu spät wahr, genauso wie das heruntergelassene Fenster und den kurzen Lichtreflex auf Metall. Nein, das sind nicht die von Fly-Taxi!, denkt er noch, dann ist da nur noch der Knall, das Splittern von Glas und die Explosion in seinem Kopf.
Sechs Jahre später
2 Samstag, 22. März
Paris
Messerscharf schneiden die gläsernen Kanten des Turms der Université Pierre et Marie Curie in den nächtlichen Himmel. Trotz des plötzlich kalten und feuchten Windes streifen auch jetzt noch, um halb zwölf, Touristen am Rande des Quartier Latin umher, begierig jede Minute ihres Wochenendtrips ausnutzend. Drei Ehepaare, alle in den Vierzigern und alle aus einem kleinen Ort in Belgien kommend, haben eine Pension in der Nähe gebucht und wollen das Zubettgehen so lange wie möglich aufschieben, und so schlendern sie ein wenig fröstelnd und unschlüssig, in welcher Bar sie sich die nötige Bettschwere antrinken könnten, an der Métrostation Jussieu vorüber. Den Campus Jussieu mit dem Hochhaus, in dem sich das Mondlicht spiegelt, beachten sie nicht, auch nicht die vier Studenten, die nur ein paar Meter vom Fuß des Turms entfernt rauchen und darüber diskutieren, in welchen Club sie gleich fahren sollen. Niemand, weder die Studenten noch die belgischen Touristen, verschwendet einen Blick auf die um das Hochhaus gruppierten flachen Gebäude, in denen sich die Abteilungen und Labors für Zellbiologie, Ernährung und Immunologie befinden.
Im rechten Flügel, hinter der Tür mit der Nummer 1378, liegt der Raum von Professor Jérôme Frost, dem Leiter des Teams EA 21679. Helles Neonlicht leuchtet beinahe schattenlos das gesamte Labor aus. Professor Jérôme Frost, über eins neunzig groß, gertenschlank, fast mager, mit langenGliedmaßen, lockigen blonden Haaren und trotz seiner erst neununddreißig Jahre bereits mit dem gebeugten Rücken eines alten Forschers, starrt auf die beiden in ihrem Käfig taumelnden weißen Ratten und streicht sich zum wiederholten Mal über die Wangen seines langen, glatt rasierten Gesichts, als hätte er einen Bart. Auf seiner hohen, fast senkrecht aufsteigenden Stirn, in die sich zwei große Locken kringeln, vertiefen sich die Längsfalten, wie immer, wenn er sich mit einem Problem herumschlägt. Nicolas Gombert, zwölf Jahre jünger, mindestens einen Kopf kleiner als Frost, dunkelhaarig, durchtrainiert vom regelmäßigen Besuch im Fitnessstudio, steht neben ihm, die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Auch er beobachtet die Ratten, die von Minute zu Minute orientierungsloser und schwächer werden.
»Nicolas, holen Sie meine Kamera, schnell«, sagt Frost, trotz des »schnell« nüchtern und ohne den Blick von den Ratten zu nehmen. Nicolas ist mit zwei Schritten an der Tür zum Nebenraum des Labors. Professor Frost ist ein strenger Arbeitgeber, der ihm oft auf die Nerven geht, aber Nicolas braucht dringend Geld, sein Leben ist teuer, und die Stelle als medizinisch-technischer Assistent sichert ihm die Miete für sein winziges, aber cooles Appartement unweit der Sorbonne. Die Kamera liegt im Regal hinter der Tür. Nicolas gibt ihr einen Schubs, sodass sie ins Schloss fällt. Er schnappt sich die Kamera und will gerade die Hand zum Türknauf ausstrecken, als er nebenan einen lauten Knall hört, als würde jemand die Eingangstür eintreten.
Schon will Nicolas zurück ins Labor, als er noch einen Schlag hört. Er weicht zurück. Er war noch nie mutig. Und ganz sicher wird er es jetzt auch nicht sein und Professor Frost beistehen. Nicolas drängt sich hinter die Tür. Jetzt hört er, wie etwas zu Boden poltert, dann folgen Schläge, es klirrt und scheppert. Die Käfige! Geh rein! Du musst ihm helfen, schreit sein Gewissen, doch Nicolas steht nur da, stocksteif, unfähig,sich zu bewegen.
Weitere Kostenlose Bücher