Die Saat
Leiche in den Sinn, ein gestrandeter Wal. Genau so kam ihr das Flugzeug vor: wie ein verrottender Kadaver, ein toter Leviathan.
Der Wind ebbte ab, als sie sich dem oberen Ende der Rampe näherte - und eines musste man wissen über das Klima draußen auf dem Vorfeld des JFK: Der Wind hörte nie auf.
Niemals.
Draußen auf dem Rollfeld war es
immer
windig. Durch die landenden Flugzeuge, die Salzmarsch und den beschissenen Atlantik direkt auf der anderen Seite von Rockaway. Aber plötzlich war es ganz windstill - so still, dass Lorenza die dick gepolsterten Kopfhörer abnahm, nur um sicherzugehen. Sie hörte ein Klopfen, das aus dem Inneren der Maschine zu kommen schien, bis ihr bewusst wurde, dass es nur ihr eigener Herzschlag war. Sie knipste die Taschenlampe an und richtete den Lichtstrahl auf die rechte Flanke des Flugzeuges.
Dem kreisförmigen Lichtkegel folgend, sah sie, dass der Rumpf nach dem Sinkflug immer noch feucht war; die Tautropfen rochen nach Frühlingsregen. Sie schwenkte die Lampe auf die Fensterreihe. Jeder einzelne Blendschutz im Inneren war heruntergezogen.
Wie seltsam ... Es kam ihr gespenstisch vor. Extrem gespenstisch. Im Angesicht dieser zweihundertfünfzig Millionen Dollar teuren, über dreihundert Tonnen schweren Flugmaschine überkam Lorenza kurz das Gefühl, sie stünde vor einer drachenartigen Bestie. Einem schlafenden Dämon, der nur so
tat,
als schliefe er, tatsächlich aber jeden Moment die Augen und das grässliche Maul öffnen konnte. Ein verstörender, merkwürdig übernatürlicher Moment. Ein Beben durchfuhr sie; alles in ihrem Inneren spannte sich an, verkrampfte sich.
Plötzlich bemerkte sie, dass eine der Blenden hochgezogen worden war. Die feinen Härchen in ihrem Nacken reagierten so empfindlich, dass sie eine Hand dorthin legen musste, als gelte es, ein verängstigtes Haustier zu beruhigen. Sie hatte diese Blende einfach nur übersehen. Sie war vorher schon hochgezogen gewesen - die ganze Zeit ...
Vielleicht.
Im Inneren des Flugzeugs rührte sich die Dunkelheit. Und Lorenza hatte das Gefühl, als würde sie beobachtet. Von drinnen.
Sie wimmerte wie ein kleines Kind, konnte nichts dagegen tun. Sie war wie gelähmt. Ein pochender Schwall Blut, der wie auf Kommando in ihr aufstieg, schnürte ihr die Kehle zu.
Und dann wusste sie es, begriff sie ohne jeden Zweifel:
Etwas da drinnen würde sie auffressen ...
Der Wind frischte wieder auf, als hätte er nie eine Pause eingelegt, und mehr Anstoß brauchte Lorenza nicht. Sie lief die Rampe hinunter, sprang auf den Fahrersitz des Transporters, legte trotz des ausgefahrenen Gepäckbands und des schrillenden Warnsignals den Rückwärtsgang ein. Das knirschende Geräusch kam von einem der blauen RollbahnLeuchtfeuer unter den Reifen, als sie davonraste, halb auf, halb neben dem Gras, den nahenden Scheinwerfern von einem halben Dutzend Rettungsfahrzeugen entgegen.
JFK International: Kontrollturm
Calvin Buss hatte ein anderes Headset übergestreift und erteilte nun Anweisungen gemäß den Bestimmungen des Nationalen Notfallplans der FAA bei Zwischenfällen auf Rollbahnen. Sämtliche ankommenden und abfliegenden Maschinen in einem Umkreis von fünf Meilen im Luftraum über JFK wurden gestoppt. Was bedeutete, dass die Zahl der wartenden Maschinen kontinuierlich zunahm. Calvin strich alle Pausen und wies die diensttuenden Fluglotsen an, auf jeder nur erdenklichen Frequenz Flug 753 anzufunken. Noch nie hatte Jimmy the Bishop im Tower eine Situation erlebt, die näher an das absolute Chaos herankam.
Mitarbeiter der Port Authority, der Betreibergesellschaft des JFK - Anzugtypen, die in ihre Nextel-Handys murmelten - hatten sich hinter ihm eingefunden. Auch das kein gutes Zeichen. Schon irgendwie bemerkenswert, dass Menschen offenbar von Natur aus Nähe suchen, wenn sie mit Unerklärbarem konfrontiert werden ...
Abermals gab Jimmy seinen Funkspruch durch. Abermals vergeblich.
»Wurde der Code für Entführung abgesetzt?«, fragte ein Anzugtyp.
»Nein«, antwortete Jimmy. »Nichts.« »Kein Feueralarm?«
»Natürlich nicht.«
»Kein Alarm wegen gewaltsamen Öffnens der CockpitTür?«
Jimmy erkannte, dass die Ermittlungen jetzt die Phase der »dummen Fragen« erreicht hatten. Er bot all seine Geduld und seinen gesunden Menschenverstand auf, all das, was ihn zu einem erfolgreichen Fluglotsen machte. »Sie ist völlig unauffällig hereingekommen und hat weich aufgesetzt. Regis 7-5-3 hat die Gate-Zuweisung bestätigt und ist dann
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