Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Schlupfwinkel unter dem Torbogen und schlich quer über den Kreuzgang. Vor der offen stehenden Tür zögerte er und steckte zunächst einmal nur die Nase hinein. Der Altar und der Chor, wo die Mönche vor ihren Bänken standen, waren mit Kerzen erleuchtet, Inseln des Lichts in einem großen schwarzen Raum. Die Mauern und die Seitenschiffe lagen in tiefer Düsternis. Ein Mönch stand am Altar und verrichtete dort irgendwelche Handlungen, die Jack nicht begriff. Die Mitbrüder stimmten hin und wieder einen unverständlichen Sprechgesang an. Wie ist das möglich, dachte Jack, dass sie sich wegen so etwas mitten in der Nacht aus den warmen Betten scheuchen lassen?
Er schlüpfte durch die Tür.
Jetzt war er drinnen, und die Dunkelheit verbarg ihn. Nur: dort, wo er jetzt stand – gleich neben der Tür an der Mauer –, durfte er nicht stehen bleiben. Die Brüder hätten ihn beim Verlassen der Kirche gesehen. Er schlich weiter. Die flackernden Kerzen warfen unruhige Schatten. Hätte der Mönch am Altar den Kopf gehoben, so wäre Jack ihm vielleicht aufgefallen. Doch der Mann war allem Anschein nach von seiner Tätigkeit vollauf in Anspruch genommen. Die mächtigen Säulen boten Jack Deckung. Schnell huschte er von einer zur anderen, wobei er jedoch darauf achtete, unterschiedlich lange Pausen einzulegen. Seine Bewegungen sollten unregelmäßig und unberechenbar bleiben, den irrlichternden Schatten entsprechend. Je näher er der Vierung kam, desto heller wurde das Licht. Schon fürchtete er, der Mönch am Altar würde plötzlich aufblicken, ihn sehen, auf ihn zustürzen und ihn am Schlafittchen packen …
Er erreichte die andere Seite und verschwand erleichtert in den tiefen Schatten, die das Mittelschiff verdunkelten. Er blieb kurz stehen und atmete auf. Dann zog er sich in den Schutz des Seitenschiffs zurück und schlich sich heimlich und immer wieder nach allen Seiten sichernd zum Westende vor. Im hintersten und dunkelsten Teil der Kirche setzte er sich auf die Fußplatte einer Säule, um dort auf das Ende der Messe zu warten.
Er zog den Umhang über das Kinn hoch und hauchte den Atem gegen seine Brust, um sich ein wenig zu wärmen. Wie sehr sich doch mein Leben in den letzten beiden Wochen verändert hat, dachte er. Es kommt mir vor, als seien seit dem Tag, an dem Mutter und ich unser beschauliches Leben im Wald aufgegeben haben, schon Jahre vergangen … Der Junge wusste, dass es kein Zurück in die gewohnte Geborgenheit gab. Er hatte Hunger, Kälte, Gefahr und Verzweiflung kennengelernt und wusste, dass ihm die Angst davor von nun an ständiger Begleiter sein würde.
Er riskierte einen Blick hinter der Säule hervor. Über dem Altar, wo das Kerzenlicht am hellsten war, ließ sich gerade noch die hohe Holzdecke erkennen. Neue Kirchen, das wusste Jack, verfügten über steinerne Gewölbe. Aber die Kathedrale von Kingsbridge war uralt. Die Holzdecke würde brennen wie Zunder …
Ich tu’s sowieso nicht, dachte er.
Freilich … Tom wäre heilfroh, wenn die Kirche abbrennen würde. Jack war sich nicht ganz sicher, ob er Tom überhaupt mochte – stark, hart und befehlsgewohnt, wie der nun einmal war, so ganz anders als Mutter, die eher die leiseren Töne bevorzugte. Brachte Jack Tom also nicht unbedingt Zuneigung entgegen, so doch auf jeden Fall Bewunderung, ja sogar eine gewisse Ehrfurcht. Die einzigen Männer, mit denen Jack es bislang in seinem Leben zu tun bekommen hatte, waren Outlaws gewesen – gefährliche, rohe Kerle, bei denen nur Gewalt und Verschlagenheit zählten und für die es nichts Schöneres gab, als andere Leute hinterrücks zu erstechen. Ein Mensch wie Tom – stolz und furchtlos, obwohl er keine Waffen trug – war Jack bisher noch nicht begegnet. Nie würde er vergessen, wie Tom William Hamleigh entgegengetreten war, als der ihm Mutter abkaufen wollte. Lord William hatte sich gefürchtet – das hatte Jack nachhaltig beeindruckt. Seiner Mutter hatte er damals gesagt, nicht im Traum habe er geglaubt, dass man so tapfer sein könne wie Tom, und Ellen hatte darauf geantwortet: »Deshalb mussten wir auch den Wald verlassen. Du brauchst einen Mann, zu dem du aufsehen kannst.«
Jack rätselte noch heute über den Sinn dieser Bemerkung. Eines stand jedenfalls fest: Er wollte Tom imponieren – irgendwie. Die Brandstiftung in der Kathedrale war dazu allerdings wenig geeignet, denn davon durfte – zumindest auf absehbare Zeit – niemand etwas erfahren. Später, in vielen Jahren,
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