Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Der Balken ruhte in zwei Trägern und erwies sich als unerwartet schwer. Jack konnte ihn gerade ein paar Zoll weit anheben und musste ihn dann wieder fallen lassen. Scheppernd plumpste er in die Träger zurück. Es klang furchtbar laut. Jack erstarrte und lauschte angespannt. Toms rasselnder Atem geriet aus dem Takt. Was soll ich sagen, wenn sie mich erwischen, dachte er, der Verzweiflung nahe. Ich sage, ich wollte rausgehen … aber warum? Ich werde sagen, ich musste mal. Erleichtert atmete er auf. Die Ausrede war glaubwürdig. Er hörte, wie Tom sich umdrehte, und wartete auf seine tiefe, raue Stimme, aber sie blieb aus. Die Atemzüge wurden wieder gleichmäßig.
Gespenstischer Silberglanz umspielte die Tür. Das muss der Mond sein, dachte Jack. Er holte tief Luft, packte zu und hob den Balken hoch. Diesmal war er auf das Gewicht vorbereitet. Noch einen Zoll, und er war frei. Jack presste den Balken an seine Brust, ging dann vorsichtig in die Knie und legte ihn auf den Boden. Er wartete, bis der Schmerz in seinen Armen ein wenig nachgelassen hatte, und horchte. Außer den gleichmäßigen Schlafgeräuschen der anderen war nichts zu hören.
Behutsam öffnete Jack die Tür einen Spaltbreit. Die eisernen Angeln quietschten leise, und ein kalter Luftzug drang herein. Jack schauderte, wickelte den Umhang fester um seinen Körper, zog die Tür ein Stückchen weiter auf und schlüpfte hinaus.
Die Wolkendecke brach auf, und der Mond rollte in den unruhigen Himmel. Ein eiskalter Wind fegte über das Klostergelände. Einen Augenblick lang war Jack versucht, in die stickige Wärme des Hauses zurückzukehren. Schwarzsilbrig im Mondlicht ragte die gewaltige Kirche vor ihm auf. Mit ihren dicken Mauern und den winzigen Fenstern wirkte sie auf ihn eher wie eine Burg. Sie ist richtig hässlich, dachte Jack.
Alles war still. Allenfalls außerhalb der Umfriedung, im Dorf, mochten noch ein paar Leute am Feuer sitzen und Bier trinken oder sich im Schein eines Binsenlichts mit Näharbeiten beschäftigen. Noch immer zögerte Jack und starrte die Kirche an, und die Kirche starrte vorwurfsvoll zurück, als wisse sie genau, was er im Schilde führte. Mit einem Achselzucken befreite er sich von der unheimlichen Vision. Dann trat er den Weg über den weiten Vorplatz an.
Die Tür auf der Westseite des Gebäudes war verschlossen. Jack begab sich zur Nordflanke und sah zu den Fenstern auf. Auf den anderen Seiten waren einige Fenster mit großen, durchscheinenden Leintüchern bespannt, um die Kälte fernzuhalten, diese hier jedoch schienen frei zu sein. Er hätte ohne Weiteres hindurchgepasst, konnte sie aber nicht erreichen, weil sie zu hoch waren. Jack tastete das Mauerwerk ab und fand hier und da Spalten, aus denen sich der Mörtel gelöst hatte, aber keiner war groß genug, um seinen Zehen Halt zu bieten. Er brauchte eine Leiter oder etwas Ähnliches.
Er überlegte, ob sich aus Trümmern des eingestürzten Turms eine behelfsmäßige Treppe bauen ließ, doch die Steine, die ganz geblieben waren, erwiesen sich als zu schwer, und die geborstenen waren zu uneben. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er am vergangenen Tag irgendwo etwas Geeignetes gesehen hatte, konnte sich aber, so sehr er sich auch bemühte, nicht genau erinnern. Dann fiel sein Blick auf den Stall jenseits des im Mondschein liegenden Gräberfelds, und er wusste Bescheid: ein Holzblock mit zwei oder drei Stufen, der es kleinwüchsigen Menschen ermöglichte, große Pferde zu besteigen. Ein Mönch hatte darauf gestanden und eine Mähne gestriegelt. Ein solcher Tritt war kein lohnendes Diebesgut; es bestand also durchaus die Möglichkeit, dass er über Nacht nicht weggeschlossen wurde.
Auf leisen Sohlen schlich Jack sich an die Stallungen heran. Aber die Pferde hörten ihn und wurden unruhig. Ein Tier schnaubte, ein anderes hustete. Jack blieb besorgt stehen. Ob die Pferdeknechte im Stall übernachteten? Er rührte sich nicht vom Fleck und horchte, doch keine menschliche Bewegung war zu vernehmen, und auch die Pferde beruhigten sich wieder.
Aber wo war der Tritt? Er konnte ihn nirgends sehen. Vielleicht stand er an der Stallwand, die im tiefschwarzen Mondschatten lag. Jack erreichte sie und ging sie ab. Wieder wurden die Pferde aufmerksam; sie spürten seine Nähe und waren unruhiger als zuvor. Eines von ihnen wieherte gar auf. Jack erstarrte. Eine Männerstimme rief: »Ruhig! So gebt doch Ruhe!« Im gleichen Augenblick, noch immer reglos wie eine Salzsäule, entdeckte Jack,
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