Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
so an der Torwache vorbeigeschlichen. Dass sie nun aber wohlbehalten in der Stadt war, hatte ihr auch nicht viel gebracht. Nichts außer ein paar trockenen Brotrinden, die ihr ab und an aus dem einen oder anderen Fenster zugeworfen wurden. Gerade eben so viel, um sie auf der richtigen Seite zwischen Leben und Tod zu halten.
Vom Marktplatz beim Dom waren Krakeelen und Lärm von Betrunkenen zu hören. In ihrer Naivität hatte Silje sich einmal dorthin begeben, um die Gesellschaft anderer nächtlicher Wanderer zu suchen. Aber schon bald hatte sie eingesehen, dass dort für ein gut aussehendes junges Mädchen nicht der richtige Platz war. Sie hatte versucht, das hässliche Zusammentreffen mit diesen brutalen Gesellen aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen – gelungen war es ihr aber nicht so ganz.
Nach der tagelangen Wanderung taten ihr die Füße weh. Der lange, lange Weg nach Trondheim hatte gewaltig an Siljes Kräften gezehrt – und da sie in der Stadt keine Hilfe fand, wurde ihre Hoffnungslosigkeit immer größer.
Silje ging auf einen Torweg zu. Sie wollte wenigstens versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Als sie jedoch das Pfeifen von Ratten hörte, wandte sie sich ab und setzte ihre trostlose Wanderung fort.
Unwillkürlich wurde sie vom Feuerschein auf dem Berg außerhalb der Stadt angezogen. Feuer bedeutete Wärme, auch wenn es ein Leichenfeuer war. Drei Tage und drei Nächte loderte es bereits. Und daneben – der Richtplatz.
Sie murmelte geschwind ein Gebet vor sich hin: »Herr Christus, beschütze mich vor all den verwirrten Geistern, die dort draußen ihr Unwesen treiben! Gib mir Mut und Kraft in Deinem Glauben, damit ich mich für einen kurzen Augenblick dorthin traue! Ich sehne mich so sehr nach der Wärme des Feuers, damit mir die erfrorenen Glieder nicht abfallen.«
Ihr argloses Herz voller Angst und den Blick geradewegs auf die verlockende Wärme gerichtet, trottete Silje auf das Stadttor im Westen zu.
Zur selben Zeit war die junge Adelige Charlotte von Meiden in einer höchst geheimen Angelegenheit unterwegs. Verzagt stapfte sie in ihren Seidenschuhen durch unbeschreiblich schmutzige Straßen, in denen der Rinnstein zugefroren war, sodass all der widerwärtige Schmutz liegen blieb. Im Arm hielt sie ein gut verpacktes Bündel, und während sie sich vom Palast ihres Vaters zum Stadttor schlich, summte sie verzweifelt eine Tanzmelodie, eine Pavane, um ihre Gedanken von ihrem Vorhaben abzulenken.
Das Gehen fiel ihr schwer. Ihre Lippen waren weiß, Schweißperlen standen ihr auf Stirn und Oberlippe und klebten ihr Haar an die Schläfen.
Wie sie es fertiggebracht hatte, ihren Zustand in diesen angsterfüllten und unerträglichen Monaten zu verbergen, begriff sie noch immer nicht. Aber sie war schon immer klein und zierlich gewesen, und deshalb hatte man es ihr kaum ansehen können. Die Mode der Zeit war ihr dabei auch entgegengekommen, ein Korsett, eine abstehende Krinoline und ein gerade von den Schultern herabhängendes Kleid verbargen das Ganze. Zudem hatte sie immer darauf bestanden, sich selbst zu schnüren, fest und schmerzhaft. Niemand, noch nicht einmal ihre eigene Kammerzofe, hatte die geringste Ahnung.
So inständig hatte sie das Leben, das in ihr heranwuchs, gehasst! Das Resultat einer flüchtigen Begegnung mit einem unbeschreiblich eleganten Dänen vom Hofe König Frederiks. Verheiratet war er auch, hatte sie hinterher erfahren. Die Gedankenlosigkeit eines einzigen Abends – und dann als Strafe all dieses Elend. Während er ungestraft von einer zur anderen weiterflatterte!
Alles hatte sie versucht, um den Eindringling in ihr Leben loszuwerden. Starke Arzneien, Sprünge aus großer Höhe, heiße Bäder – ja, sie war sogar eines Donnerstags nachts im Sommer draußen auf dem Friedhof gewesen, und dort hatte sie derart geheime und unheimliche Handlungen ausgeführt, dass sie sie danach vollkommen verdrängt hatte. Nichts aber hatte geholfen. Das widerliche Wesen in ihrem Körper hatte sich mit teuflischer Beharrlichkeit ans Leben geklammert.
Und wie viel Angst sie in diesen Monaten ausgestanden hatte! Weiterhin ausstand. Seltsamerweise aber verspürte sie gerade jetzt nicht den brennenden Hass gegen das Unerwünschte. Stattdessen fühlte sie in ihrem Herzen etwas anderes. Eine Wärme, eine heftige Trauer und Sehnsucht...
Nein, so durfte sie nicht denken! Nur gehen, gehen, fort, den wenigen Menschen, die in einer solchen Nacht draußen umherwanderten, aus dem Weg gehen.
Wie kalt
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