Die Sanddornkönigin
Prolog
I ch hätte nicht gedacht, dass ein lebloser Körper so schwer sein könnte. Dass sie so steif und kalt war, machte es nicht gerade einfacher. Zum Glück war sie vor dem Sterben nicht mehr wach geworden, sie war in genau der Stellung erstarrt, in der ich sie zum Schlafen hingelegt hatte. So ließ sie sich gut handhaben. Wie eine große Puppe. Es fehlte nur noch, dass sie am Daumen nuckelte. Die blauen Lippen machten mich irgendwie verrückt. Halb geöffnet und spröde wie die Schale einer Auster. Ich konnte nicht widerstehen und legte meinen warmen Mund darauf, doch statt des warmen, milden Fleisches schlürfte ich gefrorenen Speichel, der in kleinen Kristallen auf ihren Zähnen lag.
Bis zur Hintertür nutzte ich den Flaschenwagen zum Transport, danach musste ich sie tragen. Weit würde ich es nicht schaffen, das merkte ich schnell. Bislang war alles so einfach gewesen; ohne einen Tropfen Schweiß zu verlieren, hatte ich ihr das Leben genommen. Nun stand mir das härteste Stück Arbeit bevor. Ich bin kein Mensch für körperliche Anstrengung, mir fehlte die Luft, der Puls klopfte an meinen Schläfen, die Füße schienen am Boden zu haften. Dazu kam der Schmerz an den Händen. Trotz der Handschuhe fraß sich die Kälte ihres Körpers bis an meine Haut, und ich hatte das Gefühl, meine Finger seien aus sprödem Glas und zersplitterten Stück für Stück unter der Last.
Natürlich hatte ich mir meine Gedanken gemacht, wo ich sie niederlegen würde. Sie war zu schön, um dem Zufall zu überlassen, wann sie gefunden werden würde. Ich wollte nicht, dass im Frühjahr spielende Kinder den Anblick einer von Möwen und anderem Getier zerfressenen Frauenleiche ertragen müssen. An dieser Stelle, wo ich sie nun am Ende meiner Kräfte in den Sand fallen ließ, würde ihr Körper wahrscheinlich entdeckt werden, bevor er aufgetaut war.
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, lange zu bleiben. Ich wollte sie abladen und gehen, wie jemand, der den Müll nach unten bringt. Doch meine Verfassung zwang mich, innezuhalten. Ein paar Schritte entfernt von der kalten Schönheit blieb ich stehen und betrachtete sie. Die frühe Sonne, mit deren Licht ich meinen Weg durch die Dünen gefunden hatte, war nun hell genug, um wie eine Ahnung die Farbe ihres Haares erkennen zu lassen. Es hatte sich theatralisch in den schwarzen Dornen des Sanddornstrauches verfangen und war orangerot wie dessen Früchte.
Es sah so schön aus, wie sie da lag. Man hätte fast denken können, ich hätte einen Ritualmord begangen. Ritualmord klingt irgendwie künstlerisch. Schade, dass es keiner war. Es war lediglich ein ganz normales Kapitalverbrechen. Hätte sie mir nicht einen Strich durch die Rechnung machen wollen, so wäre sie jetzt noch am Leben.
Und so wird es mein einziger Mord bleiben, denn es ist nicht mein Ding, jemanden, der so voller Leben ist, umzubringen. Es gehört eine Menge Organisationstalent dazu, wenn man es plant, zudem braucht man Glück, dass im entscheidenden Moment niemand zur Tür hereinkommt, und eine Leiche frühmorgens durch die Dünen zu tragen ist ein wahrer Kraftakt. Wenn ich nicht einen verdammt guten Grund gehabt hätte, dies alles zu tun, dann wäre Ronja Polwinski noch warm, und ich läge zufrieden und unschuldig in meinem Bett.
Mittwoch
L etztlich war die Telefonzentrale schuld daran, dass Wencke ausgerechnet auf eine Insel verschlagen wurde, um ihr Können unter Beweis zu stellen. Wäre der unselige Anruf am frühen Mittwochmorgen ins benachbarte Zimmer durchgestellt worden, dann säße jetzt der neunmalkluge Kollege Sanders auf einer Juister Düne. Doch sie hatte sich gemeldet.
»Mordkommission Aurich, Kommissarin Wencke Tydmers am Apparat.« Und zehn Minuten später war sie zu Hause, um die Koffer zu packen, die mahnenden Worte ihres Vorgesetzten noch im Ohr.
»Das ist Ihre Chance, Frau Tydmers. Zeigen Sie, was in Ihnen steckt, und streichen Sie die Außendienstpauschale für den Inselaufenthalt auch noch mit ein. Und nicht vergessen: Mein Stuhl wird bald frei, und die Frauenquote will Sie als Hauptkommissarin sehen. Wenn Sie es aber vermasseln, dann haben wir einen Grund, Sanders zu befördern. Die Bevorzugung der weiblichen Bewerber zieht nur bei gleicher Qualifikation, wie Sie wissen. Und im Moment steht es eins zu null für Ihren lieben Kollegen.«
Sie könnte sich selbst ohrfeigen, dass sie den letzten Fall versaut hatte. Mord im Prostituiertenmilieu:
Nette, viel zu junge Mädchen, die über versteckte
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