Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Brustwarzen von den Wäscheklammern befreit, und erhebt sich unter einiger Anstrengung. Herr Müller war früher mal besser in Form. Das Wachs auf seiner Brust sieht aus wie die Philippinen.
»Warum bist du denn schon zu Hause?«, fragt er.
»Nichts los gewesen heute. Annette hat alleine zugemacht«, sage ich. »Wischst du bitte noch den Tisch ab?«
Herr Müller nickt. Ich wüsste gern, ob er sich öfter selbst quält und herumjault, wenn ich nicht zu Hause bin. Nur so aus allgemeinem Interesse. Bei Gelegenheit werde ich ihn fragen, noch ist das Erlebte zu frisch, möglicherweise schämt er sich auch ein bisschen dafür, von mir erwischt worden zu sein. Ich gehe nach oben. Das Meerschwein will gefüttert werden.
Montag, 20.15
Es ist seit über tausend Sendungen das gleiche Spiel, und noch immer rasten die Zuschauer aus, wenn er auftritt. »Und hier kommt Ihr Moderator: Hier ist Günther Jauch.« Dööö-dö-dömmm. Applaus. Johlen. Euphorische Pfiffe. Herr Müller knipst sich einen Fußnagel ab. Ich schaue zu ihm rüber. Er blickt angestrengt auf.
»Ist was?«, fragt er.
»Wo stehen wir denn?«, frage ich.
»Ich glaube, bei 8000. Sie ist Studentin, Anglistik, will sich von ihrem Gewinn ein Auto kaufen.«
Und schon bin ich wieder im Bilde. Letzten Freitag war ich gen Ende der Sendung etwas unaufmerksam, ich musste öfter nachsehen, ob Rosamunde schon kalbt, eine unserer Kühe. Aber sie war dann doch brav und hat noch eine Stunde gewartet, bis der Tierarzt da war. Heute gibt die Kuh Ruhe.
»Das war übrigens nur Training vorhin«, sagt Herr Müller. »Ich hab da eine im Internet kennengelernt, die auf so Sachen steht. Schmerzen, weißt du? Also, mäßig. Sadomaso light. Hat mich gefragt, ob ich das mag, und ich wusste es nicht. Da wollte ich mal ausprobieren, ob mir das taugt.«
»Schon in Ordnung«, sage ich. Damit ist das Thema abgeschlossen.
Auf unserem Wohnzimmertisch, auf dem sich Herr Müller vorhin bewachst hat, stehen zwei Flaschen Bier, zwei Aschenbecher, eine Schüssel mit Resten von Hühnersuppe und ein Teller mit Bröseln und Restkernen eines Vitalbrötchens aus meinem Supermarkt. Herr Müller liegt auf seinem Sofa, ich auf meinem. So ist das jeden Montag und jeden Freitag um Zwanzigfünfzehn. Wer wird Millionär ist unser Fixpunkt. Ansonsten geht jeder seiner Wege, da sieht man sich mal zwei, drei Tage nicht, auch wenn wir beide zu Hause sind; aber um Jauch zu schauen, treffen wir uns im Wohnzimmer, ein althergebrachtes Ritual. Andere beten oder essen zusammen, wir schauen Jauch. Herr Müller verzichtet montags und freitags sogar extra auf seine dubiosen Internet-Dates.
Günther Jauch guckt gerade überrascht. Das kann er gut. Gleich, wenn die Anglistikstudentin 16 000 hat, wird er sie fragen, was für ein Auto es jetzt sein darf, und ihr einige Empfehlungen geben und eine wilde Geschichte aus seiner Jugend erzählen. Ich glaube, Günther Jauch hat in seinem bewegten Leben schon in jedem existenten Automodell gesessen. Immer, wenn sich ein Kandidat von seinem Gewinn ein neues Auto kaufen will, berät er fachmännisch. Manchmal zerknautscht er sein Gesicht und schüttelt doppelkinnig den Kopf, wenn es ein Renault oder Ähnliches sein soll. Es sei denn, eine gebrauchte Ente, das ist Kult, das mag er.
Früher hat er immer gefragt: »Waren Sie da schon mal?« Bis zu gefühlt fünfmal pro Sendung. Die richtige Antwort war zum Beispiel Spanien, irgendwas mit dem Königshaus, und er hat gefragt: »Waren Sie da schon mal?« Jedes Mal. Das hat er sich abgewöhnt. Zurzeit redet er sehr viel über Autos und sagt dann immer: »So einen hatte ich auch mal.« Günther Jauch muss zu jeder Zeit seines Lebens einen sehr, sehr großen Fuhrpark besessen haben, oder er ist begeisterter Leaser.
Schon die erste Folge haben Herr Müller und ich uns zusammen angesehen, das war 1999, am 3. September. Seitdem haben wir keine Folge verpasst. Wenn es mal gar nicht geht, nehmen wir die Folge auf, wir haben jetzt extra einen Festplattenrekorder dafür. Aber bisher war es noch nie so, dass es gar nicht ging. Wir haben sie alle gesehen.
1999 waren wir beide, Herr Müller und ich, noch etwas, sagen wir mal, förmiger, mehr so Kategorie Boygroup, mit vollem, seidig glänzendem Haar und zumindest noch späten Rudimenten von Bauchmuskeln. Herr Müller versucht das aktuell wiederherzustellen, er geht ins Fitnessstudio, Fitness First Forever heißt es, hat er erzählt. Ich habe mich damit abgefunden, dass der Körper nun mal
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