Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Montag, 17.30
Ich lasse Frau Rottenbauer links liegen. Sie steht mit ihrer braunroten Riesenhandtasche und ihrem Klappstuhl vor der Metzgerei und winkt mir im Rückspiegel nach.
Das ist lustig. Ich kann sagen, dass ich sie liegen lasse, obwohl sie steht, das geht. Über solche sprachlichen Möglichkeiten freue ich mich und denke lange darüber nach. Ich habe Zeit dazu. Mein Heimweg dauert eine halbe Stunde, mein Weg zur Arbeit auch, logisch. Eine Stunde pro Tag, in der ich mehr Tiere aufgemalt auf Warnschilder sehe als echte Tiere. Vögel zählen nicht; ich meine Tiere im Windschutzscheibenblickfeld. Menschen gibt es sowieso nicht, was sollten die da auch? Auf der Strecke passiert nichts. Besondere Vorkommnisse ausgeschlossen, Gegenverkehr selten. Einmal habe ich mein linkes Bein aus dem Fenster gehängt, auf den zwölf Kilometern, wo ich nicht schalten muss. Hätte das jemand gesehen, uiuiui, der hätte aber geschaut!
Ich sehe manchmal Serien, in denen gutartige Serienmörder ihre bösen Opfer zerstückelt im Meer versenken. Meer gibt es hier nicht. Aber käme ich mal in die Verlegenheit, eine zerstückelte Leiche verschwinden lassen zu müssen, bräuchte ich nicht lange nachzudenken – das beruhigt mich fundamental. So hätte meine Fahrstrecke gleich noch eine Funktion neben der, mich und zwei andere Menschen am Tag zu transportieren.
Ist das da rechts im Wald ein Eber? Nein, Totholz.
Ich biege auf unseren Hof ein und fahre eine Runde um die Scheune, um zu kontrollieren, ob der Hühnerstall geschlossen ist. Ist er. Ich parke parallel zum Haus, ziehe den Schlüssel ab, die Musik verstummt. Es ist ruhig. Bei uns ist es immer ruhig. Ich steige aus, drücke meine Feierabendkippe im Blumentrog vor der Haustür aus und gehe rein. Mit einem Schlag ist es nicht mehr ruhig. Der Fernseher im Wohnzimmer läuft sehr laut. Werbung. Die Werbung, in der der Sohn dem Vater seinen Rasierer empfiehlt, weil er so gut gleitet, auch gegen den Strich. Dem Vater gefällt er (der Rasierer, nicht der Sohn) so gut, dass er ihn nicht mehr zurückgeben mag. Wieso wohnt der Sohn überhaupt noch zu Hause, er ist doch weit über zwanzig! Wenigstens ein eigenes Badezimmer hätte er sich im Lauf der Zeit zulegen können, um ein bisschen selbständig zu werden. Wer will sich schon das Bad mit seinem Vater teilen müssen, nachdem der Bartwuchs eingesetzt hat? Und dann noch darüber reden, über Bärte und Rasierer? Diese Werbung ist ziemlich deprimierend. Ich hänge meine Schlüssel an das Rehgeweih im Hausflur und bewege mich weiter auf die Beschallung zu. Das Wohnzimmer ist am Ende des Flurs, gerade redet Vera am Mittag über ihre Verdauungsprobleme.
»Ich muss Ihnen was ganz Privates erzählen«, sagt sie. »Manchmal fühle ich mich so … so aufgebläht!«
Eine offensichtlich aufgeblähte Frau sagt, dass sie sich manchmal aufgebläht fühlt. Das ist ja ein Ding! Als ich die Wohnzimmertür aufstoße, erklärt Vera wissend, wie viele Liter Wunderjoghurt genau man am Tag trinken muss, um sich wieder sauwohl zu fühlen. So gern ich mir das von ihr erzählen lasse, sie ist nicht mehr Zentrum meiner Aufmerksamkeit.
Herr Müller liegt rücklings auf dem Wohnzimmertisch. Er hat Wäscheklammern an seine Brustwarzen geknipst und hält eine brennende Kerze über sich. Mit ziemlich hoher Sicherheit will er sich mit dem heißen Wachs beträufeln. Aha, das ist mal was Neues. Als einziges Kleidungsstück trägt er eine kurze dunkelblaue Adidas-Sporthose mit hellblauen Streifen. Original Achtzigermodell, keine Retro-Neuauflage. Könnte auch aus seiner Bundeswehrzeit stammen. Er hat mich noch nicht bemerkt und neigt die Kerze jetzt etwas. Das flüssige Wachs plongt auf seine Brust, und er hechelt ein bisschen. Wie soll man das besser beschreiben? Ihm entfahren mehrere H-Laute in kurzen, sehr kurzen Intervallen. Freud und Leid vermischen sich in seinen plosiven Ausstößen. Er schüttet noch mal nach. H-h-h-h-h-hhhh. Die Nationalmannschaft isst jetzt Nutella-Brote im Fernsehen, und ich sage: »Guten Abend.«
Herr Müller richtet langsam die Kerze auf, wobei er noch ein paar Tropfen auf sich verschüttet, diesmal ohne begleitende Laute, und sagt: »Es ist nicht das, was du denkst.«
»Ich denke gar nichts«, sage ich wahrheitsgemäß. Außer, dass ich garantiert nie etwas kaufen würde, wofür Vera am Mittag Werbung macht.
Herr Müller dreht sich um neunzig Grad, um seine Füße auf den Boden zu bekommen, verzieht ein bisschen das Gesicht, als er seine
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