Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
meine Frage überhaupt gar keine Grundlage hatte. Bei einem derart geringen Aufkommen von Feingefühl wird man wohl kaum die Wohnung wegen möglicher Irritationen einer alten Dame monatelang weihnachtlich dekoriert lassen.
War ja nur so eine Idee von mir … Lustig irgendwie, dass Frau Reinhardt nun ihrerseits mich für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Aber das war auch nichts Neues für mich.
Als ich versuchte, ihr meine Vorstellung von einer Unterstützung für sie zu erläutern, unterbrach sie mich: »Sie glauben jetzt aber nicht wirklich im Ernst, dass ich mir von so einer Sozialarbeiter-Psycho-Trulla in meine Erziehung reinquatschen lasse, oder?«
Äh … Na ja …
»Ich hab schon mal ein Kind großgezogen. Ich weiß, wie das geht. Das muss mir keiner erklären. Da hab ich auch keine Zeit für so einen Quatsch.«
Stimmte schon. Sie hatte bereits ein Kind großgezogen. Und das verbrachte nun den Großteil seiner Zeit in psychiatrischen Kliniken. Ich meine, es musste nicht unbedingt einen Zusammenhang geben, aber es konnte. Durchaus.
Um es kurz zu machen: Anna-Lena würde zukünftig nicht bei ihrer Oma im Weihnachtswunderland wohnen. Sie blieb bei ihrer Bereitschaftspflegefamilie, die Besuchskontakte von Anna-Lena zu ihrem Vater und ihrer Mutter tatkräftig unterstützte und sich bereit erklärte, das Mädchen so lange bei sich zu behalten, bis einer der Elternteile wieder dazu in der Lage sein würde, sich um Anna-Lena zu kümmern.
Ich bin sicher, ich tat damit Frau Reinhardt und Anna-Lena einen Gefallen. Dem Mädchen aus offensichtlichen Gründen, und der Oma rettete ich ganz bestimmt das Leben, denn wenn ihre Enkeltochter nun auch noch bei ihr leben würde, bekäme sie ja NOCH MEHR Geld … Nein, nein, das wäre viel zu gefährlich!
Eine kleine Heldin
»Hallo, Frau Seeberg, ich bin gerade bei Gericht. Verhandlungspause. Können Sie eine Begutachtung dazwischenschieben? Jetzt sofort!«
Frau Ehring klang gehetzt und machte zum ersten Mal seit langer Zeit zu Beginn eines Gespräches keinen Witz.
»Jetzt sofort? Ja, ich weiß nicht …«
»Bitte! Ich weiß, wie ausgelastet Sie sind, und ich würde Sie nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Ja, dann … Gut …«
Sie unterbrach mich. »Wunderbar! Ich wusste, dass Sie ja sagen würden! Ich sag gleich dem Richter Bescheid. ›Lisa Hofmann‹ ist das Kind, um das es geht. Sie soll … Oh, die Pause ist um. Ich melde mich danach. Danke!«
Weg war sie.
Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Wenn schon Frau Ehring keine Gags mehr auf Lager hatte, dann musste es sich um eine wirklich schlimme Sache handeln.
Alle Fälle, die ich begutachte, sind besonders und auf ihre Art einzigartig. Aber es gibt Umstände, Geschichten und Personen, die mich mehr beschäftigten als andere. Der Auftrag »Lisa Hofmann« ist und bleibt einer der berührendsten Fälle für mich.
Mein erster Termin war bei Familie Hofmann zu Hause. Zwei Tage nachdem Frau Ehring mich angerufen hatte.
Lisas ältere Schwester Maria saß mir gegenüber. Sie war gerade achtzehn geworden, weshalb sich die Fragestellung des Familiengerichts nicht auch auf sie bezog. Sie durfte selbst bestimmen. Ihre kleine Schwester Lisa nicht. Sie war gerade erst dreizehn geworden.
Maria hatte den Wunsch geäußert, mit mir zu sprechen, und ich hatte diesem gern entsprochen.
»Wenn Lisa jetzt auch noch nach Hamburg muss, dann wird sie das völlig umhauen. Sie ist das tapferste Mädchen, das ich kenne, aber irgendwann kann auch sie nicht mehr. Was muss sie denn noch alles durchmachen?«
Maria schaute mich wütend an.
Sie war ausgesprochen hübsch mit ihren dunklen glatten Haaren und den großen braunen Augen.
»Ja, sie ist erst dreizehn, aber es kann doch nicht sein, dass er jetzt einfach mit ihr machen kann, was er will! Das darf nicht sein!«
Sie zupfte sich die Ärmel ihres hellgrünen Sweatshirts über die Fingerspitzen, schob die Ärmel wieder zurück, fuhr sich durchs Haar und begann dann ein Taschentuch, das auf dem Tisch lag, zu zerrupfen.
»Das darf er einfach nicht. Der hat sich scheiße Mama gegenüber verhalten. Und uns gegenüber. Der hat sich doch nie für uns interessiert! Und jetzt kommt er an und macht einen auf Papa oder was? Das ist einfach … Das ist so … Das darf nicht sein!«
Sie nahm sich das nächste Taschentuch vor und zupfte wütend daran herum. Dann hielt sie inne, seufzte tief und ließ die Schultern nach unten fallen.
»Finden Sie’s
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