Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
schlimm, dass ich das Shirt hier anhabe? Mama mochte das so gerne, und da dachte ich …«
Sie knüllte den Rest des Taschentuchs zusammen und atmete mehrmals tief ein und aus.
»Maria, ich finde, das ist eine sehr schöne Farbe. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemand schlimm findet, wenn du dieses Shirt tragen willst.«
Maria lächelte zum ersten Mal. Nur kurz, aber immerhin. Ein Lächeln.
»Danke. Das sagt Frau Roth auch. Die ist wirklich in Ordnung. Und die hat sich sofort um uns gekümmert. Sie war gleich da, als … nachdem … sie hat …«
Ich sah, wie Maria kämpfte. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, aber es war klar, dass dies definitiv nicht die richtige Situation dafür war. Und dass Maria das auch nicht gewollt hätte.
Nach kurzer Zeit hatte sie sich wieder im Griff. Sie schaute mich an. Entschlossen, jetzt alles zu sagen, was ich ihrer Meinung nach wissen musste. Und zwar ohne zu weinen.
»Am Samstag, als das … passiert ist, da haben wir Frau Roth gerufen. Und sie ist die ganze Zeit bei uns geblieben. Sie hat sich um uns gekümmert und zugesehen, dass es uns gutgeht. Als mein Vater dann Bescheid wusste, hat sie lange mit ihm gesprochen. Aber er hat nicht auf sie gehört. Er wollte Lisa sofort holen kommen. Aber da ist Frau Roth schon mit ihr zu so einem Arzt in der Ambulanz gegangen. Das Jugendamt hatte ja zu. War ja Sonntag. Und dann hat sie mit all den Leuten geredet und Termine gemacht und sich trotzdem um uns gekümmert. Lisa will bei ihr bleiben. Bitte. Bitte, das muss doch möglich sein! Herr Roth ist auch noch da. Der ist auch total nett. Lisa geht kaputt, wenn unser Vater sie mit nach Hamburg nimmt. Sie müssen das verhindern! Mama hätte das nie gewollt, dass …«
Maria schlug die Augen nieder, kaute auf ihrer Unterlippe und krallte ihre Finger so sehr ineinander, dass ich tatsächlich befürchtete, es würde jeden Moment Blut fließen.
»Maria, wenn du später noch mal mit mir sprechen möchtest, dann können wir das sehr gern tun. Meine Nummer hast du ja.«
Maria nickte, verharrte aber in ihrer Position. Sie sah aus, als hätte sie jeden verfügbaren Muskel angespannt, um nicht zusammenzubrechen.
Ich stand auf. »Ich hole mal Frau Roth, ja?«
Kaum hatte ich die Zimmertür geöffnet, kam sie mir auch schon entgegen. Gefolgt von ihrem Mann, der mich kurz begrüßte und dann Maria sanft am Arm anfasste. Sie stand auf und ließ sich von Herrn Roth nach draußen bringen. Kaum hatten die beiden das Zimmer verlassen, hörte ich Marias Schluchzen und ein tiefes, beruhigendes Murmeln.
»Mein Mann kümmert sich jetzt um sie. Bei ihm kann sie weinen.« Frau Roth nickte mir beruhigend zu.
Sie fuhr fort: »Maria ist sehr tapfer. Genauso wie Lisa. Aber es muss auch eine Zeit geben, in der sie sich gehenlassen können. Sie sollen nicht vor lauter Tapfersein das Trauern vergessen. Ich glaube, das gehört dazu und ist wichtig.
Aber die beiden stehen noch unter Schock. Und jetzt geht es noch dazu darum, was nun mit Lisa geschieht. Das alles ist ja schon für mich sehr schwer. Was die Mädchen gerade zu ertragen haben, ist kaum vorstellbar.«
Maria und Lisa waren vor nicht einmal einer Woche am Samstag mit ihrem Hockeyverein auf einem auswärtigen Turnier gewesen und erst am Abend nach Hause gekommen. Ihre Mutter hatte ihnen nicht geöffnet, und sie hatten auch kein Licht gesehen.
Die beiden Mädchen hatten sich gewundert, aber gedacht, dass ihre Mutter vielleicht später mit ihnen gerechnet hatte und deshalb auf ein Glas Wein bei den Nachbarn, der Familie Roth, sei. Sie klingelten dort. Frau Roth war zwar zu Hause, aber die Mutter der Mädchen war nicht bei ihr.
Lisa erzählte mir später: »Das ist der allerschlimmste Moment für mich. Ich hab Erika, also Frau Roth, gesagt, sie soll uns aufschließen, und dann, als wir ins Haus kamen, hab ich … Da lag Mama auf dem Sofa, und ich hab ihr zugerufen: ›Boah, Mama! Das kann ja wohl echt nicht sein, dass du einfach nicht hörst, wenn wir klingeln!‹ Ich hab das nicht böse gemeint. Aber ich hab so doof mit ihr geredet, und sie war da doch …«
Ihre Mutter war tot.
Sie hatte keine Vorerkrankungen gehabt. Keine Probleme. Dennoch hatte ihr Herz an diesem Samstag einfach aufgehört zu schlagen.
Frau Roth und ihr Mann waren sofort zur Stelle und kümmerten sich um Lisa und Maria. Nach dem ersten Schock informierten sie den Vater der Kinder und Ex-Mann der Mutter, Herrn Hofmann, im knapp sechshundert
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