Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
er sich bei ihnen wohler fühlen könnte, versuchte ich ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass die Pflegeeltern ja eben keine »fremden Leute« für Boris waren.
Frau Michalkow lachte kurz auf, verließ dann kopfschüttelnd den Raum, um in der Küche Bier zu trinken, kam kurz zurück, um noch einmal zu erklären, dass sie sich von niemandem sagen lassen werde, dass sie sich anders verhalten solle, und ging wieder in die Küche, wo sie bis zum Ende des Termins blieb.
Herr Iwanow begann mir zu erläutern, dass Boris problemlos schon am nächsten Tag von der Pflegefamilie zu ihnen ziehen könne. Dies würde ihm nichts ausmachen. Er sei ja noch viel zu klein, um eine Meinung oder ein Gefühl bezüglich seines Lebensmittelpunktes zu haben.
Ich fragte ihn nicht, wie das mit seiner Aussage, Boris wolle bei ihnen leben, zusammenpasse, sondern bat Herrn Iwanow zum wiederholten Mal, doch die Anwesenheit der Dolmetscherin zu nutzen, um sie übersetzen zu lassen. Bei diesem wichtigen Thema wünschte ich mir sehr, dass wir uns zumindest inhaltlich wirklich verstanden. Herr Iwanow lehnte wie immer mit den Worten »zu anstrengend dem Dolmetsch« ab. Ich insistierte, woraufhin er erklärte, dass sein Russisch deutlich schlechter sei als sein Deutsch.
Oh … Tja, dann …
Die Dolmetscherin verabschiedete sich, und ich musste mich sehr bemühen, Herrn Iwanow konzentriert zuzuhören, denn ein Teil von mir war damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, in keiner Sprache so richtig kommunizieren zu können. Schrecklich.
Wenn ich mir Herrn Iwanow aber so betrachtete, schien ihn das nicht zu stören.
Er erklärte mir seine Sicht der Dinge, also wie er die kindliche Entwicklung sah: »Der Boris, er hat noch kein, also, kein … Nix Ahnung von nix. Er weiß nicht, was und wo und wie.« – »Herr Iwanow, Ihr Sohn ist immerhin fast fünf Jahre alt. Er weiß schon …« – »Ja, irgend so fünf, vier oder fünf er ist. Aber hat noch kein weiß nix, weil ist er noch klein. Wo … Wo ist seine feste Platz, oder wie kann man sagen? Er weiß doch selbst nicht. Da sein der andere Platz, wo der wohnt jetzt oder so. Dann aber, wenn er ist bei hier, dann ist hier. Dann weiß nix mehr komische fremde Leut, wo wohnt. Vergisst Kind, wenn hier. Er gar nichts wissen, er noch … Er weiß nichts. Wo sein Platz, wo sein Eltern, wo alles, weiß er nicht. Er zu uns gehören. Er unser Sohn, gehört … gehört uns der Sohn, weil unser! Nicht das von den da, wo jetzt! Unser Sohn! Unser!! Du ihm sagen: ›Das da deine Eltern!‹ Dann alles gut. Dann er leben hier und glücklich!«
Ich startete noch einen Versuch, Herrn Iwanow die Sicht seines Sohnes zu erklären, für den die Pflegefamilie sein gewohntes Umfeld und seine psychologische Familie war.
Ich scheiterte.
»Das UNSER Sohn! Du nicht wissen? Das UNSER ! Anderes sind dumme Leute. Da nicht … Nicht richtig. So hier kommt. Das ist vier oder fünf, das Junge! Ist nicht … Der nix weiß. Nix kapiert. Dann kommen und sagt: ›Ja, hier.‹ Du … Das du machst richtig, weil sonst falsch! Er hier lebt jetzt und nicht da.«
Herr Iwanow war sehr aufgebracht, und mir wurde klar, dass weder seine Frau noch er ernsthaft in Erwägung gezogen hatten, dass Boris am Ende des Gerichtsverfahrens womöglich bei seinen Pflegeeltern bleiben würde. Offenbar dämmerte Herrn Iwanow nun so langsam, dass ich das ganz anders sah als er.
Ich erklärte ihm, dass ich dem Gericht empfehlen würde, Boris bei seiner Pflegefamilie zu belassen. Noch bevor ich meine Begründung erläutern konnte, beugte sich Herr Iwanow vor und zischte: »Du das machen, wie ich sagen. Sonst du bereuen. Ich Russe. Du gehört von Russenmafia? Sie kommen dich vernichten. Dich und deine Familie und deine Kinder und dein … alles. Ich Russe, und ich schicken Mafia zu dir. Boris wird sein hier, oder du wirst sein kaputt. Kaputt wie Auto kaputt. Ich erzählen Mafia, was du getan, dann du kaputt. Also, du machen, wie ich sage! Boris hier bei uns!«
Ich war froh über meine Berufserfahrung und die Tatsache, dass das nicht das erste Mal war, dass man mir drohte. Allerdings hatte bislang noch niemand die Mafia ins Spiel gebracht.
Ebendiese Erwähnung veranlasste mich aber, es deutlich weniger ernst zu nehmen, als ich es getan hätte, wenn Herr Iwanow lediglich gesagt hätte, er selbst werde mich »kaputt machen wie Auto kaputt«. Eine Verbindung des Herrn Iwanow zur Mafia hielt ich doch für zu absurd.
Heute
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