Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
darunter.
Boris starrte auf das Papier.
Ich konnte nicht recht erkennen, was in ihm vorging. Ich vermute, er war schlichtweg überfordert und wusste nicht recht, ob er wütend, traurig oder was ganz anderes sein sollte.
Dimitri war es abermals, der die Situation rettete.
»Boris, ich geh mir was zu trinken holen. Magst du mitkommen?«
Und wie Boris mitkommen wollte! Ich schätze, weniger, um etwas zu trinken, als vielmehr, um nicht noch weitere Erklärungen seiner Mutter anhören zu müssen. Diese hatte sich nämlich Boris’ andere Zeichnungen geschnappt und begonnen, auch hier durchzustreichen und zu verbessern.
Ich ging mit Boris, Dimitri und Iwan zur Küche. Dort stand Herr Iwanow mit einer Flasche Bier. Als er Boris sah, spulte er sein »Gib Kuss! Du was essen? Das hier essen, extra gemacht für dich! Gib Kuss!«-Programm ab. Mir schoss das Bild eines Frosches in den Kopf, der reflexartig seine Zunge ausfahren lässt, wenn er eine Fliege sieht. Ähnliches schien mit Herrn Iwanow zu geschehen, wenn er seinen Sohn sah. Er musste ihm einfach sagen, er solle ihn küssen und etwas essen, das doch extra für ihn gemacht worden sei.
Boris ignorierte seinen Vater, was dieser mit einem »Gibkusswarumdunixesse« kommentierte, bat Dimitri um ein Glas Apfelsaft und tapste dann hinter seinen Brüdern wieder den Flur entlang Richtung Kinderzimmer. Diesmal landeten sie in Dimitris Kinderzimmer, wo sich dieser an den Computer setzte und Boris auf seinen Schoß zog.
Ich warf einen Blick in Iwans Zimmer. Frau Michalkow saß noch immer dort und verbesserte Boris’ Zeichnungen.
Dimitri klickte sich derweil durch diverse Autobilder und erklärte Boris die einzelnen Modelle mit ihren Vor- und Nachteilen. Dieser verstand sicher nur einen Bruchteil dessen, was sein großer Bruder da von sich gab, lauschte aber mit großen Augen und quietschte vor Freude, als er auch mal klicken durfte.
Iwan hatte sich einen Stuhl herangezogen und sah zu.
Frau Michalkow malte nebenan.
Im Wohnzimmer tönte wieder der Fernseher.
Frau Michalkow verließ nach einiger Zeit Iwans Zimmer, ging in die Küche und begab sich wieder in Richtung der Kinderzimmer. Sie tat dies aber nicht etwa, um in Dimitris Zimmer zu schauen, was die Kinder so trieben. Nein.
Als ich ein paar Minuten später nachsah, entdeckte ich Frau Michalkow in Iwans Zimmer. Sie saß dort mit einer Flasche Bier am Tisch und malte vor sich hin summend ein Haus mit Baum und Sonne.
In den drei Stunden, die Boris im Haushalt seiner Eltern verbrachte, hatten sich diese insgesamt etwa zwanzig Minuten mit ihrem Sohn beschäftigt. Als er abgeholt wurde, forderten sie ihn wieder mehrfach auf, sie zu küssen, etwas zu essen und doch mal herzukommen.
Boris küsste seine Eltern mechanisch, blieb stumm und sah meist zu Boden, wenn sie mit ihm sprachen.
Von Dimitri und Iwan verabschiedete er sich freundlich und strahlte, als ihm Iwan eins der Autos, mit denen sie gespielt hatten, leihweise mit zu seinen Pflegeeltern gab.
Als seine Pflegemutter zur Tür kam, sprang er in ihre Arme und vergrub seinen Kopf an ihrem Hals. So blieb er, bis sie ihn im Auto in seinen Kindersitz setzte.
Frau Michalkow erklärte im nachfolgenden Termin, sie habe doch »schön mit Boris gespielt«, als er da gewesen sei, und wisse gar nicht, was ich an dem Besuchsnachmittag auszusetzen hätte. Boris hätte sich doch nett mit ihr unterhalten und gar nicht mehr gehen wollen.
Möglicherweise war sie tatsächlich davon überzeugt. Dann musste es sich hierbei allerdings um eine extreme Form der subjektiven Wahrnehmung handeln. Vielleicht eher um eine Wahrnehmungsverzerrung. Oder so …
Auch Herr Iwanow verstand meine vorsichtig geäußerten kritischen Bemerkungen nicht: »Das schöner Nachmittag mit Boris gewesen. Ach, mein Sohn. Er lieber möchte hier. Sie verstehen? Das Sie sehen müssen. Er ist Russe, will hier leben. Nicht bei fremde Leute mit Deutsch und so. Falsches Essen die kochen und dumm sind.«
Frau Michalkow ließ durch die Dolmetscherin ausrichten, dass sie finde, dass ich keine Ahnung hätte. Sie mache alles richtig und sehe nicht, was sie im Umgang mit Boris anders machen könne. Wenn mir etwas nicht gefallen habe, dann liege das ausschließlich daran, dass Boris traurig sei, weil er nicht bei ihnen leben dürfe, sondern nun schon so viele Jahre bei »dummen fremden Leuten« sein müsse.
Nachdem ich aufgegeben hatte zu erklären, was die Eltern im Umgang mit Boris ändern könnten, damit
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