Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
selbständig erledigen, benötigte aber für Ämtergänge, Arztbesuche oder Elternsprechtage in der Schule jeweils jemanden, der für sie übersetzte.
Mit den beiden Jungen, die wieder bei ihr lebten, sprach sie allerdings auch in ihrem rudimentären Deutsch.
Als ich dies bei einem Hausbesuch ohne Dolmetscher feststellte und ihr sagte, sie dürfe ruhig trotz meiner Anwesenheit mit ihren Kindern Russisch sprechen, schaute sie mich sehr erstaunt an. »Russisch??«
Ich war kurz verwirrt. Das war doch die russische Familie …? Ja, war sie.
Also lag es doch auf der Hand, Russisch zu sprechen. Oder …? Oder etwa nicht?
So schauten wir uns also einen kaugummiartig langgezogenen Moment voller Erstaunen an.
Der älteste der beiden Jungen, Dimitri, kam uns zu Hilfe: »Wir können beide kein Russisch. Deshalb sprechen wir hier Deutsch.«
Ohmeingott … Wie tragisch war das denn? Und wie unverantwortlich vom Jugendamt. Bei einer notwendigen Herausnahme von Kindern sollte man einen regelmäßigen und sinnvollen Kontakt zwischen Kindern und Eltern gewährleisten. Wie konnte es passieren, dass die beiden ihre Muttersprache verlernt hatten? Vor allem, wo doch offenbar eine Rückführung der Kinder zur Mutter wieder möglich gewesen war.
Und ähnlich verhielt es sich mit Boris, dem Jüngsten. Er hatte nie Russisch gelernt.
Allerdings hatte er bei den Besuchskontakten mit seinen Eltern auch von diesen kein Wort Russisch gehört. Sie hatten in ihrem höchst wackeligen Deutsch mit ihm gesprochen.
Ich begreife bis heute nicht, dass dies niemandem aufgefallen ist bzw. niemand sich dazu bemüßigt gefühlt hatte, eine Lösung für dieses Problem zu finden.
Frau Michalkow erklärte mir, sie habe gar nicht daran gedacht, Russisch mit ihren Kindern zu sprechen. Diese seien ja irgendwie deutsche Kinder, also habe sie sie eben auf Deutsch angesprochen.
Ich war einigermaßen fassungslos, denn ich kannte Frau Michalkows Deutsch. Sie konnte kaum etwas formulieren, was über »Bring mir die Milch«, »Komm her« und »Räum das weg« hinausging. Frau Michalkow sah allerdings kein Problem in der Sprachbarriere. Sie könne ihren Kindern sagen, was sie tun und lassen sollten, erklärte sie. Und sie verstehe alle Uhrzeiten, so dass sie immer wisse, wann ihre Kinder nach Hause kommen würden.
Mir dämmerte, dass sie auch in ihrer Muttersprache nicht mehr mit ihren Kindern kommuniziert hätte.
Herr Iwanow sprach etwas besser Deutsch als seine Lebensgefährtin. Aber er erklärte mir, dass Dimitri und Iwan ja nicht seine Kinder seien, sondern die von Frau Michalkow. Er habe im Grunde nichts mit ihnen zu tun. Und wenn er von der Arbeit nach Hause komme, brauche er seine Ruhe. Sie dürften aber mit ihm fernsehen, wenn sie wollten. Da sei er gar nicht so …
Offenbar hatten die beiden Kinder keinen wirklichen Ansprechpartner zu Hause. Das gefiel mir gar nicht, und ich nahm mir vor, mit dem zuständigen Jugendamtsmitarbeiter darüber zu sprechen.
Nun ging es aber zunächst einmal um den kleinen Boris.
Ich vereinbarte mit den Eltern, dass ich beim nächsten Besuchskontakt dabei sein würde. Das war beiden Elternteilen sehr recht, denn dann würde ich ja sehen, dass Boris gar nicht mehr von ihnen wegwollte, wenn er bei ihnen sei. Er wisse schließlich, wo er hingehöre.
Das sah Boris allerdings irgendwie anders.
Ich hatte ihn schon in seiner Pflegefamilie besucht und ihn als recht gut entwickeltes Vorschulkind erlebt. Er war ein eher ruhiger Junge, baute gern mit Lego, liebte Hörspiele und malte stundenlang (gerade hatte er eine Autophase und produzierte Unmengen an Bildern mit Autos, Lkws und Parkhäusern). Von der Unruhe, die er nach der Geburt gezeigt hatte, war nichts mehr zu merken – und auch sonst wirkte es, als habe er den Alkoholkonsum seiner Mutter während der Schwangerschaft recht gut verkraftet. Was für ein Glück.
Als seine Pflegemutter ihn zu seinen Eltern brachte, stand Boris recht verloren im Flur und ließ seine Pflegemutter nur sehr ungern gehen. Nachdem seine Pflegemutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde Boris umgehend quasi unter den Fragen, Aufforderungen und Angeboten seiner Eltern begraben. Mutter und Vater sprachen die meiste Zeit gleichzeitig, versuchten sich zu übertönen, und nach einer mehrminütigen Schleife aus »Gib Kuss! Du was essen? Komm her! Gib Kuss! Das essen? Warum das nicht essen? Iss das hier! Gib Kuss! Komm mit! Fernsehen? Essen? Gib Kuss!« hielt tatsächlich
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