Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Eltern.«
Herr Sander küsste ihre Hand und sagte leise: »Und das waren wir auch nie.« Er sah mich an. »Wirklich nicht.«
Als Joel geboren wurde, war Herr Sander zwar ein Jahr älter als seine Freundin, aber ebenfalls noch minderjährig. Nach Bekanntwerden der Schwangerschaft hatten Steffis Eltern sofort erklärt, dass sie sich keinesfalls um das Kind würden kümmern können und ihre Tochter auch nicht bei der Versorgung unterstützen würden. Frau Sanders Eltern betrieben einen Kiosk und waren allem Anschein nach selbst ihre besten Kunden – zumindest was Spirituosen und Süßigkeiten betraf.
Steffi zog bei ihren Eltern aus und zu Rons Familie, die deutlich gelassener auf die Nachricht der bestehenden Schwangerschaft reagiert hatte. Rons Vater war Sozialpädagoge und arbeitete in einer Werkstatt für Behinderte, Rons Mutter war Sängerin und trat auf Hochzeiten, Firmenfeiern und sonstigen festlichen Anlässen auf. Nur für Beerdigungen konnte man sie nicht buchen. Sie hatte es zweimal versucht, aber jedes Mal vor lauter Mitgefühl mit den Trauernden kaum singen können. In der Familie lebte noch Rons kleine Schwester, die damals vierzehn war und sich auf ein Baby im Haus freute. Ron selbst ging so wie Steffi noch zur Schule.
Alles schien trotz der viel zu frühen Schwangerschaft und Steffis Streit mit ihren Eltern gut zu laufen. Die Lehrer und Mitschüler der beiden hatten größtenteils verständnisvoll reagiert, und wenn alles gut lief, würde das Baby erst zu Beginn der Sommerferien zur Welt kommen, so dass Steffi noch das Schuljahr würde beenden können.
Doch als sie im achten Monat war, änderte sich Rons und Steffis Leben schlagartig.
Herr Sander lächelte mich an: »Ich hab in den letzten Jahren genug Termine bei meinem Therapeuten gehabt. Ich kann jetzt darüber sprechen.«
»Ron, bist du sicher?« Seine Frau sah ihn besorgt an.
»Ja, klar. Mach dir keine Sorgen.«
Er wandte sich an Lilly, die mittlerweile zwischen den beiden in einem Hochstuhl saß und einen Zwieback in mikroskopisch kleine Teilchen zerbröselte. »Gell, Lilly, die Mama muss sich keine Sorgen machen. Und du bröselst schön, gell?«
Lilly lachte und krähte ein »Jaaaaa …!«.
Ein schönes Bild: Herr und Frau Sander, die beide voller Liebe auf ihre Tochter schauen, sich danach anlächeln, und Lilly, die mit sich, der Welt und ihren Zwiebackbröseln zufrieden war.
Herr Sander räusperte sich.
»Das war wie in einem echt miesen Film. Also, zumindest kam es mir so vor. Auch als würde das alles gar nicht mir passieren. Als würde es mich nichts angehen. Mein Therapeut sagt, das wäre normal. Das würde man automatisch machen, damit man nicht kaputtgeht.«
Er hielt inne und begann seiner Tochter beim Zwiebackbröseln zu helfen.
»Steffi und ich waren gerade vom Arzt gekommen. Es war sicher, dass es ein Junge wird. Das wollten wir meinen Eltern und meiner Schwester selbst sagen und nicht am Telefon. Wir sind zu mir nach Hause gefahren, und da kam gleichzeitig mit uns ein Polizeiwagen angefahren. Da hab ich mir noch nichts dabei gedacht. Aber die kamen mit uns zur Tür. Also, die wollten zu uns. Ich dachte, meine Schwester hat vielleicht was angestellt. Obwohl … Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt etwas dachte. Na ja, irgendwas wohl schon.«
Herr Sander hörte auf den Zwieback zu bearbeiten und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. Er sah seine Frau an. Sie lächelte ihm zu. Er holte tief Luft und setzte sich aufrecht.
»Meine Eltern hatten einen Autounfall. Stauende in der Kurve, ein Lkw hinter ihnen. Sie waren sofort tot. Ich bin froh, dass sie sofort tot waren. Das ist besser, als noch zu leiden. Meine Schwester war auch im Auto gewesen. Sie sitzt seitdem im Rollstuhl.«
Dieser Unfall hatte Rons und Steffis Leben vollkommen aus der Bahn geworfen. Neben dem Schock und der Trauer mussten sie nun lauter Dinge klären, mit denen sie sich komplett überfordert fühlten. Wohnungsauflösung, Besuche bei Rons Schwester, Beerdigung der Eltern, Suche einer Zukunftsperspektive …
Steffis Eltern boten zwar Hilfe an, aber es war sofort klar, dass dies eher eine Formsache als ein echtes Angebot war. Steffi und Ron lehnten dankend ab.
Allerdings gab es auf Rons Seite außer einem alten Onkel in Holland keine weiteren Verwandten. Die beiden waren auf sich allein gestellt.
So kam das Jugendamt ins Spiel. Es wurde für Ron, der ein halbes Jahr später volljährig werden würde, eine Wohnung in der Nähe der
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