Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Reha-Klinik seiner Schwester besorgt, die einen Vormund bekam. Für Steffi fand man einen Platz in einem Mutter-Kind-Heim. Das lag allerdings knapp zweihundert Kilometer von Rons Wohnung entfernt. Steffi hatte darum gebeten, bei Ron bleiben zu dürfen, aber die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes hatte erklärt, dass das vollkommen unmöglich wäre. Also hatten Ron und Steffi darum gebeten, irgendeine andere Lösung zu finden, um nicht voneinander getrennt zu sein. Laut Jugendamt gab es diese Möglichkeit nicht.
Ich weiß, dass Mutter-Kind-Heime oft überfüllt sind. Und ich weiß auch, dass es nicht unbedingt ein solches Heim mit einem freien Platz in der Nähe von Reha-Kliniken gibt, aber ich hatte beim Lesen der Akte das Gefühl gehabt, dass man mit etwas mehr Engagement vielleicht doch eine bessere Lösung für die jungen Eltern hätte finden können.
Aufgrund der Entfernung konnte Herr Sander nicht bei der Geburt seines Sohnes dabei sein.
»Das war furchtbar. Ich wusste, Steffi braucht mich, und ich kam nicht weg. Jedenfalls nicht schnell genug.«
Frau Sander nickte und sah mich an.
»Wissen Sie, das war alles wirklich grässlich. Ich habe mich noch nie so alleine gefühlt. Ich hab gedacht, ich werde verrückt. Und ich hatte eine Scheißangst vor der Geburt. Und dabei auch. Das tat so weh, und Ron war nicht da und … Die Ärztin war nett und so, aber …«
Frau Sander machte eine fahrige Handbewegung. Sie stand auf, nahm Lilly behutsam aus dem Hochstuhl, setzte sie auf ihre Hüfte und gab ihr eine Rassel in die Hand. »Komm, meine Süße, wir gehen dir eine frische Windel machen, und dann kannst du mal Mittagsschlaf machen.« Lilly schüttelte die Rassel und quietschte.
Herr Sander sah seiner Frau und seiner Tochter hinterher.
»Das hat sie alles noch nicht so gut verarbeitet. Sie macht jetzt auch eine Therapie. Aber sie hat ewig auf einen Platz gewartet und fängt erst in ein paar Wochen an. Sie war damals noch so geschockt vom Tod meiner Eltern und davon, dass meine Schwester nicht mehr laufen kann. Und dann konnten wir uns kaum noch sehen. Nur SMS schreiben und hin und wieder telefonieren. Und dann die Geburt und danach …«
Sowohl Ron als auch Steffi hatten sich bis zur Geburt ihres Sohnes erstaunlich gut gehalten. Vielleicht hatte aber auch nur der Schock so lange angehalten und einigermaßen für Ruhe in der Seele gesorgt.
Als Joel zwei Tage alt war, konnte Ron seinen Sohn endlich besuchen. Er hatte sich gefreut, stellte aber fest, dass ihn die Situation vollkommen überforderte. Seine Freundin litt an einer Wochenbettdepression, und seinen Sohn konnte er kaum auf dem Arm halten, aus Angst, er könnte ihm weh tun.
»Ich wollte ihn nur schnell wieder loswerden. Ich hatte plötzlich eine richtige Panikattacke und gedacht, ich lasse ihn jetzt womöglich fallen, und dann ist er tot. Oder ich drücke ihn zu fest, und er erstickt. Lauter so verrückte Gedanken. Mir war schon klar, dass das Blödsinn war, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte den einfach nur schnell wieder der Schwester geben. Und dann lag Steffi da im Bett und war total blass. Sie sah so fremd aus … Sie hat die ganze Zeit nur geweint und wollte sich nicht umarmen lassen. Es war furchtbar. Ganz furchtbar. Ich bin dann einfach weggelaufen und hab mich zwei Wochen nicht gemeldet. Ich hab zu Hause im Dunkeln gesessen und noch nicht mal die Energie gehabt, mir zu überlegen, ob ich mich umbringen sollte. Ich … ich weiß gar nicht, ob ich da was gegessen hab und so. Na ja, hab ich sicher, aber ich weiß es nicht mehr. Ich war einfach gar nicht mehr da.«
Das Jugendamt schrieb daraufhin einen Bericht, in dem stand, dass Herr Sander sowohl seine Freundin als auch seinen Sohn ablehne und keinerlei Interesse an den beiden habe. Er sei unreif und nicht dazu in der Lage, ein verantwortungsvoller Vater zu sein.
Steffi wurde ein paar Tage später aus dem Krankenhaus entlassen. Im Mutter-Kind-Heim versuchte man zwar, ihr zu helfen, aber sie war apathisch und sprach mit niemandem mehr. Zwar kümmerte sie sich um Joel, aber sie erledigte weder ihre Küchendienste, noch erschien sie zu den Gesprächen mit den Betreuern. Dreimal ließ sie Joel in der Obhut einer inzwischen befreundeten Mitbewohnerin und lief nachts stundenlang durch die Stadt.
Es war schrecklich. Und wurde noch schrecklicher.
Im Bericht des Jugendamtes stand:
»Frau Sander boykottierte den Gruppenalltag, verweigerte ihre Mitarbeit und
Weitere Kostenlose Bücher