Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
machte einen Hausbesuch und stellte dabei fest, dass die Bedenken der Oma durchaus gerechtfertigt waren. Frau Semmler hatte keine Idee, was ihre Tochter aß, wann sie schlafen sollte und wie man ein Kind wickelt. Sie war weder bereit dazu, nachts oder morgens früh aufzustehen, noch konnte sie für eine altersgemäße Beschäftigung des Kindes sorgen. Auf die Frage der Jugendamtsmitarbeiterin, was sie so mit ihrem Kind mache (Serafina war damals sechs Monate alt), hatte Frau Semmler angegeben, mit ihrer Tochter Musik zu hören, Zeitschriften zu lesen und sich »zum Ausgehen fertig zu machen«.
Da Frau Semmler sich nicht davon abbringen ließ, so schnell wie möglich mit ihrer Tochter aus dem elterlichen Haushalt ausziehen zu wollen, machte das Jugendamt eine Meldung an das Familiengericht wegen drohender Kindeswohlgefährdung und beantragte den Entzug der elterlichen Sorge. Die Oma ihrerseits stellte einen Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge auf sich selbst.
Serafina lebte also bei ihrer Oma. Diese (gerade mal Ende vierzig) war zwar ein wenig einfach gestrickt, verhielt sich den Kindern im Haushalt gegenüber aber sehr herzlich und liebevoll. Ich hatte Serafina dort besucht und mit der Oma, später im Rahmen eines Besuchskontaktes auch mit Frau Semmler, in Interaktion erlebt. Serafina wirkte auf mich wie ein ganz normales anderthalbjähriges Kind, für das die Oma aufgrund der Familienverhältnisse die Hauptbezugsperson darstellte. Sie war gut eingebunden in die Familie der Großeltern, mochte den Opa und auch die minderjährigen Geschwister von Frau Semmler, die ebenfalls dort lebten.
Frau Semmler war zum Zeitpunkt der Begutachtung zwanzig Jahre alt und zum zweiten Mal schwanger. Ihr Äußeres wirkte ein bisschen schmuddelig – fettige Haare, fleckige Kleidung und abgeplatzter Nagellack –, sie war aber sehr hübsch. Sie hatte große blaue Kulleraugen, eine Stupsnase und einen schön geschwungenen Mund. Mit gewaschenen Haaren und sauberer Kleidung wäre sie durchaus attraktiv gewesen. Sie lief in diesem typischen Schwangerenwatschelgang, obwohl sie erst im sechsten Monat war. Im Gegensatz zu den meisten Leuten, die ich begutachte, schien sie offenbar erfreut, mich zu sehen. Ich nehme an, sie ging davon aus, dass sie nur einmal mit mir reden müsse und ich dann schon dafür sorgen würde, dass ihre Tochter wieder zu ihr zurückkäme.
Frau Semmler erzählte mir, dass sie nach wie vor mit Serafina in einer eigenen Wohnung leben wolle und fest vorhabe, dies auch so schnell wie möglich zu tun. Wenn ich sie reden ließ, sprach sie stundenlang davon, wie sehr sie ihr Kind vermisse – und natürlich auch umgekehrt. Serafina sei der Sinn ihres Lebens, sie würden einander unendlich lieben, nicht ohne einander leben können und, und, und …
Auf die Frage, warum sie ihre Tochter denn dann nicht, wie vereinbart, alle vierzehn Tage am Wochenende besuche, erklärte Frau Semmler zunächst, dass sie nicht genug Geld für die Fahrkarte habe. Später sagte sie, dass sie keine Zeit habe, da sie ja ihre Wohnung in Ordnung bringen müsse – das habe zumindest das Jugendamt gesagt.
Ja, da musste ich ihr beziehungsweise dem Jugendamt zustimmen. Denn die Wohnung, in der sie mit ihrem derzeitigen Freund und Vater des ungeborenen Kindes wohnte, war nicht auf Anhieb als solche zu erkennen. Sie befand sich zwar in einem Haus, das eine Tür hatte – ich glaube, man konnte sie sogar schließen, bin mir aber nicht ganz sicher – sowie ein Treppenhaus, somit also die Möglichkeit, nach oben und auch wieder nach unten zu gelangen. Ob das Ganze aber auch dann noch stehen würde, wenn ein Lkw mit Vollgas daran vorbeidonnerte, weiß ich nicht. Um ehrlich zu sein, ich bezweifle es sehr.
Die eigentliche »Wohnung« bestand aus einem Flur und diversen Räumen. Im ersten, den Frau Semmler mir zeigte, ragten lauter Rohre aus der Wand, und nur eine Ecke war ansatzweise gefliest. Ansonsten war der Raum leer. »Das ist das Bad. Da muss noch ein bisschen was gemacht werden.« Ah …
Das nächste Zimmer war gänzlich ohne Bodenbelag, verfügte dafür aber über eine Art Schrank. »Die Küche. Da kommt dann noch was rein. Also, Küchenzeug und so«, erklärte Frau Semmler.
Zum Schluss führte sie mich ins »Wohn-Schlaf-Zimmer«: Diesen Raum hatten sie sich ganz gemütlich eingerichtet, mit einem großen Handtuch auf dem Estrich. Ich nehme an, es sollte einen Teppich simulieren, vielleicht lag es aber auch aus anderen
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