Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Also, ich hab vor dem Haus gewartet, damit ich mitkriege, wenn Sie sich verabschieden, weil … Also, ich wollte mit Ihnen reden und wusste nicht … Also, das ist mir alles ein wenig peinlich jetzt …«
Ich fand Manuela Liedke gar nicht peinlich, sondern erfrischend ehrlich und authentisch. Und zudem schien sie im Gegensatz zu ihrem Bruder ein irgendwie geartetes Interesse an Schakkeline zu haben. Sonst hätte sie diesen Aufwand nicht betrieben.
»Ich hab die Lina gerne hier, wissen Sie?«
»Verzeihung, wen?«
Lag eine Verwechslung vor? Trank ich in einer ganz falschen Wohnung nicht für mich bestimmten Kaffee?
Frau Liedke hatte offenbar ähnliche Gedanken, denn sie riss die Augen auf. »Na, die Lina! Wegen ihr waren Sie doch bei meinem Bruder, oder nicht? Sie …«
Aber dann lächelte sie erleichtert.
»Schakkeline.«
»Ah …«
»Schakkeline ist Lina. Wir sagen schon immer Lina zu ihr. Schakkeline … Also, das ist ja wohl ein schlechter Scherz, oder? Mal ehrlich! Ich kann nicht fassen, dass sie jetzt in der Schule auch noch so genannt werden muss. Das ist doch … Also, ich glaube, dass das nicht gut ist. Da denkt die Lehrerin natürlich gleich, dass sie ein bisschen dumm ist. Oder?«
Jetzt lächelte auch ich erleichtert. Ich saß in der richtigen Wohnung mit einer Frau am Tisch, die offensichtlich die Möglichkeit hatte, die Situation zu retten. Und das tat sie dann auch.
Schakkeline, also Lina, zog zu ihrer Tante, Manuela Liedke. Frau Höffers wollte dem zwar zunächst nicht zustimmen, konnte sich aber erstaunlich schnell damit anfreunden, als Frau Liedke ihr versicherte, dass sie das Kindergeld behalten und Lina weiterhin bei ihr gemeldet sein könne. Sie arbeitete als Sekretärin bei einem Steuerberater und erklärte mir, dass sie auch ohne Kindergeld für Lina würde sorgen können.
Lina wiederholte die erste Klasse auf einer neuen Schule im Wohnumfeld von Frau Liedke und kam dort sehr gut zurecht – sie übersprang zwar keine Klasse, bewältigte den Schulstoff aber mehr oder weniger mühelos, fand schnell neue Freunde und fühlte sich bei ihrer Tante offenbar sehr wohl.
Ihren Vater sah sie hin und wieder, und auch ihre Mutter besuchte sie ab und an. Allerdings nicht wirklich oft, was aber weder Vater noch Mutter störte. Und Lina ebenso wenig.
Das is normal!
Mein erster Gutachtenauftrag war eine recht harmlose Umgangsstreitigkeit mit gebildeten und später auch kompromissbereiten Eltern, ordentlichen Wohnungen und Kindern, um die ich mir im Nachhinein nicht wirklich Sorgen machen musste. Für mich war das Ganze dennoch anstrengend gewesen, weil ich zwar über eine gute Ausbildung, nicht aber über Routine, Erfahrung und Gelassenheit verfügte. Alles in allem war aber alles gut verlaufen. Die Mutter der Kinder hatte sich zwar eine andere Empfehlung gewünscht, aber sie war nicht gegen das Gutachten angegangen. Der Vater, die Rechtsanwälte, das Jugendamt und der Richter waren zufrieden, und ich irgendwie erleichtert gewesen.
Mein zweiter Fall war dagegen … anders.
Die Familie wohnte in einer Obdachlosenunterkunft. Bei meinem ersten Hausbesuch stand ich vor einem riesigen Gebäudekomplex ohne Klingelschilder oder sonstige Orientierungsmöglichkeit. Ich fragte mich also durch und hatte schon bald das Gefühl, allein von den Ausdünstungen, die mir da größtenteils entgegenschlugen, leicht benebelt zu sein. Ich fühlte mich wie in einer lieblos produzierten Fernsehserie, die schlicht ein Klischee nach dem anderen bedient.
Das Obdachlosenheim war verwahrlost, dreckig und chaotisch. Und die Bewohner, die ich traf, entsprachen genau der Vorstellung, die sich ein spießiger Versicherungsvertreter und seine Stammtischkumpane von Obdachlosen machen: ungepflegt, verwirrt und mit einer unangenehmen Alkoholfahne.
Endlich an der Wohnung der Familie Koch angekommen, wurde mir die Tür von einer Frau geöffnet, die mich mit den Worten »Aha, Sie sind die Frau vom Gericht. Das is alles normal hier. Sie können wieder gehen« begrüßte und sich anschickte, mir die Tür wieder vor der Nase zuzumachen.
Bei dem Geruch, der mir da aus der Wohnung entgegenschlug, wäre ich in der Tat gern umgedreht und irgendwohin gegangen, wo es nicht nach Schweiß, Urin, Alkohol, Erbrochenem und etwas roch, von dem ich gar nicht wissen wollte, was es war …
Dennoch erklärte ich Frau Koch, dass ich nicht wieder gehen, sondern mit ihr reden, die Wohnung sehen und die Kinder kennenlernen wolle.
Mit einem
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