Die Schale der Winde
einen Fremden, erkannte er jetzt, daß es stimmte. »Ich habe gesehen, was Ihr mit ihm getan habt, Mat. Wir hätten genausogut mit einem Wiesel in einer Kiste eingesperrte Küken sein können. Die Macht gegen ihn zu lenken, war nutzlos. Die Stränge schmolzen genauso dahin wie bei Eurem...« Sie betrachtete das noch immer von seiner Hand baumelnde Medaillon und atmete tief ein, was eine interessante Wirkung auf ihren ovalen Ausschnitt hatte. »Danke, Mat. Ich entschuldige mich für alles, was ich Euch jemals angetan oder über Euch gedacht habe.« Sie klang, als meinte sie es ernst. »Ich baue immer mehr Toh Euch gegenüber auf«, sagte sie kläglich lächelnd, »aber ich werde nicht zulassen, daß Ihr mich schlagt. Ihr werdet zulassen müssen, daß ich Euch wenigstens einmal rette, um es auszugleichen.«
»Ich werde sehen, was ich einrichten kann«, erwiderte er trocken, während er das Medaillon in seine Jackentasche steckte. Toh? Sie schlagen? Licht! Die Frau verbrachte entschieden zuviel Zeit mit Aviendha.
Als er ihr aufgeholfen hatte, blickte sie den Gang hinab zu Vanin mit seinem blutverschmierten Gesicht und den Frauen, die dort lagen, wo sie zu Boden gesunken waren. »Oh, Licht!« stöhnte sie. »Oh, Blut und verdammte lodernde Flammen!« Er zuckte trotz der Umstände zusammen. Nicht nur, daß er niemals erwartet hätte, jene Worte aus ihrem Mund zu hören. Es schien seltsam, als kenne sie den Klang, nicht aber die Bedeutung der Worte. Irgendwie hatten sie sie jünger klingen lassen.
Sie schüttelte seinen Arm ab, nahm ihren Hut, warf ihn einfach beiseite, kniete sich eilig neben die nächste Weise Frau, Reanne, und nahm ihren Kopf in beide Hände. Die Frau lag leblos da, das Gesicht nach unten gewandt und die Arme ausgestreckt, als sei sie beim Laufen zu Fall gebracht worden, auf dem Weg zu dem Raum, zu dem alle gelangen wollten, auf ihren Angreifer zu, nicht von ihm fort.
»Hier reichen meine Fähigkeiten nicht«, murmelte Elayne. »Wo ist Nynaeve? Warum ist sie nicht mit Euch heraufgekommen, Mat? Nynaeve!« rief sie zur Treppe hin.
»Du brauchst nicht wie eine Katze zu kreischen«, grollte Nynaeve, die im Treppenhaus erschien. Sie schaute über die Schulter die Stufen hinab. »Ihr haltet sie fest, hört Ihr mich?« rief sie. Sie trug ihren Hut in der Hand und schüttelte ihn gegenüber demjenigen, wen auch immer sie meinte. »Wenn Ihr sie auch entkommen laßt, ohrfeige ich Euch!«
Dann wandte sie sich um, und ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Das Licht scheine auf uns«, keuchte sie und beugte sich eilig über Janira. Eine Berührung, und sie richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Mat hätte ihr sagen können, daß die Frau tot war. Nynaeve nahm Tod anscheinend persönlich. Sie schüttelte sich und trat zur nächsten Frau, Tamarla, und es schien, als könnte sie bei ihr noch etwas Heilen. Es schien aber auch, als wäre Tamarla schwer verletzt, weil sie stirnrunzelnd über ihr kniete. »Was ist hier geschehen, Mat?« fragte sie, ohne sich nach ihm umzusehen. Ihr Tonfall veranlaßte ihn zu seufzen. Er hätte wissen sollen, daß sie ihn für all das verantwortlich machen würde. »Nun, Mat? Was ist geschehen? Werdet Ihr reden, Mann, oder muß ich...« Er erfuhr niemals, womit sie ihm drohen wollte.
Lan war Nynaeve natürlich aus dem Treppenhaus gefolgt, und Sumeko erschien gleich hinter ihm. Die rundliche Weise Frau blickte einmal den Gang entlang, raffte dann sofort ihre Röcke und lief zu Reanne.
Sie warf Elayne einen besorgten Blick zu, bevor sie auf die Knie sank und ihre Hände auf eigenartige Weise über Reanne zu bewegen begann. Das lenkte Nynaeve jäh ab.
»Was tut Ihr?« fragte sie scharf. Ohne in dem innezuhalten, was sie mit Tamarla tat, gönnte sie der rundlichen Frau nur kurze, aber bohrende Blicke. »Wo habt Ihr das gelernt?«
Sumeko zuckte zusammen, aber ihre Hände hielten nicht inne. »Verzeiht mir, Aes Sedai«, sagte sie atemlos. »Ich weiß, ich sollte nicht...
Sie wird sterben, wenn ich nicht... Ich weiß, ich sollte nicht ständig versuchen... Ich wollte einfach lernen, Aes Sedai. Bitte.«
»Gut, gut, macht weiter«, sagte Nynaeve wie abwesend. Der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit war auf die Frau unter ihren Händen gerichtet. »Ihr scheint einiges zu wissen, was nicht einmal ich... Das heißt, Ihr verwendet die Stränge auf sehr interessante Art. Ihr werdet vermutlich feststellen, daß viele Schwestern von Euch lernen wollen.« Und sie fügte leise hinzu:
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