Die scharlachrote Spionin
1. Kapitel
K erzenlicht küsste funkelndes Kristall. Raschelnde Seidenröcke wirbelten im Takt des Wiener Walzers, und der schmeichelnde, süße Klang der Violinen vermischten sich mit dem Duft nach Rosen und Jasmin. Das Lachen der Lady strahlte so hell wie die Perlen an ihrem Hals.
»Lass deine Hand ein wenig tiefer gleiten ...« Ihr Partner, ein dunkelhaariger Gentleman mit engelsgleichen Augen und teuflischem Lächeln, ließ die behandschuhten Finger auf seine Hüfte gleiten. »Sí, sí! Ach, wenn ich dich nur darum bitten dürfte, sie in meiner Hose verschwinden zu lassen, bella!«
Sie zwang sich zu einem Lachen. »Du bist ein Flegel! Ich ...«
»Non, non, NON!« Der Tanzmeister klopfte mit seinem Elfenbeinstock gegen das Pianoforte. »So plump wie ein Elefant! Ich habe gesehen, wie Ihre Hand in seine Westentasche geschlüpft ist.«
»Verzeihung.« Die Schülerin, die nur unter dem Namen Sofia bekannt war, senkte zerknirscht den Kopf.
»Versuchen Sie es noch einmal!« Klopf. »Und Sie, Marco, hören Sie endlich auf, Sofia zu verwirren!«
»Ah, aber ich kann nichts dagegen tun.« Marcos Lippen zuckten. »Wir Italiener haben eine Schwäche für himmlische Schönheit, und die Signorina ist nichts als ein Kunstwerk, eine ätherische Venus in Samt. Botticelli persönlich hätte nicht besser ...«
Ein Schlag unterbrach die blumige Erwiderung. »Wenn Sie Ihre lebhafte Einbildungskraft nicht zügeln können, ständig zu Sofias Hintern zu schweifen, werden Sie den Rest des Unterrichts damit verbringen müssen, die Ställe auszumisten!«
»Diese Hände sind nicht dazu geschaffen, im Dung zu wühlen«, murmelte Marco und lupfte die wohlgeformten Brauen.
»Die Meisterklasse ist kein Kinderspiel, Monsieur Musto! Sofia muss nicht nur die raffinierte Etikette im Ballsaal beherrschen, sondern auch raffiniert in die Tasche eines Gentlemans greifen können. Der Erfolg einer Mission könnte davon abhängen.«
»Es war mein Fehler, Monsieur Lemieux!«, meldete Sofia sich rasch zu Wort. »Ich fürchte, dass mir Hirschlederhosen und Stiefel viel bequemer sind als Satin und Tanzschuhe. Und meine Hände sind es viel mehr gewohnt, ein Schwert zu greifen als einen Goldsplitter.«
»Wenn du doch nur nach meinem Schwert greifen würdest, bella«, murmelte Marco.
»Halt die Klappe!« Mit einem diskreten Tritt an sein Schienbein verlieh sie ihren Worten Nachdruck. »Sonst sorgst du noch dafür, dass wir beide unsere Hände tief in den Dreck tauchen müssen.«
Marco bemühte sich um eine ernsthafte Miene. »Prego, bella! Ich möchte nicht, dass du für meine Sünden büßen musst.«
»Die, wie der Himmel weiß, im Überfluss vorhanden sind«, murmelte Sofia, als die Musik wieder zu spielen begann. »Versuch wenigstens, dich zu benehmen, Marco! Ein dunkler Fleck in meiner Akte ist kein Grund zum Lachen. Schlechte Bewertungen kann ich mir nicht erlauben.«
Disziplin. Pflicht. Die Akademie verlangte mehr von ihren Schülerinnen als die meisten anderen Internate. Aber schließlich bestand der Auftrag von Mrs. Merlins Academy for Select Young Ladies auch nicht darin, die hochgeborenen Töchter der Salons zu Diamanten allererster Güte zu schleifen. Nein, es ging vielmehr darum, eine Truppe von Waisenkindern - wegen ihres Muts und ihrer Klugheit sämtlichst handverlesen aus den Londoner Armenvierteln - zu einer Geheimwaffe zu formen, zu der nur weibliche Krieger zählten. Tanz und Benehmen im Salon gehörten zum Unterricht. Und das galt auch für Fechten, Schießen und Reiten - nicht zu vergessen die geheimen Kriegskünste und die Kunst der Verführung. Die Lektionen, die im Klassenzimmer gelehrt wurden, konnten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
»Attendez-vous! Die Violinen und Cellos setzen erst in der letzten Strophe ein.«
Sofia zwang sich zur Entspannung. Der Erfolg des Kunststücks hing davon ab, genau den richtigen Moment zu erwischen. Eine Drehung, ein Herumwirbeln ...
Diesmal glitten ihre Finger in Marcos Westentasche hinein und wieder hinaus, ohne auch nur einen einzigen Faden zu berühren. Als die Melodie zum finalen Crescendo anschwoll, hielt Sofia die goldene Taschenuhr in die Höhe.
Der Tanzlehrer - ein früherer Juwelendieb, der mit seiner Ausbeute ganz Paris hätte erpressen können, bis der Terror seiner Karriere ein Ende setzte - nickte grimmig. »Schon besser! Gleichwohl lässt sich immer noch an den Feinheiten arbeiten.«
»Aber heute ist unsere Zeit leider begrenzt.« Mrs. Merlin, die
Weitere Kostenlose Bücher