Die Schatten der Vergangenheit
mich umarmte, trafen sich über Lucys Schulter hinweg Ashers und meine Blicke. Durch meine mentalen Abwehrmauern konnte er meine Gedanken zwar nicht hören, aber er kannte mich. Wusste, dass ich nichts gesagt hatte. Seine Hand glitt in meine, und er wärmte mich damit. Die vertraute Berührung brachte meine Mauern zum Einsturz, und er kannte die Wahrheit, als hätte er die E-Mail selbst gelesen.
»Nein«, wiederholte ich. »Er möchte mich nicht treffen. Er möchte, dass ich zu ihm komme und bei ihm lebe.«
»Den Teufel wirst du tun.«
Das war Ashers Antwort auf mein Dilemma, und ein Blick in die Runde sagte mir, dass Lucy und Gabriel derselben Meinung waren. Eigentlich hatte es so ausgesehen, als würden sie meinen Entschluss, mit meinem Großvater Kontakt aufzunehmen, gut finden. Aber jetzt, wo sich alles konkretisierte, wollten sie nur noch, dass ich mir die Sache so schnell wie möglich aus dem Kopf schlug.
Verzweifelt zerknüllte ich das Blatt Papier in meiner Hand. Asher erläuterte, weshalb ich meinen Großvater kein weiteres Mal kontaktieren sollte – wir wussten ja gar nicht, ob wir ihm vertrauen konnten, denn auf das Wort meiner Mutter war nun wirklich kein Verlass.
Schließlich hatte sie Dean während unseres Zusammenlebens nicht nur erlaubt, mich halb tot zu prügeln, während sie sich volllaufen ließ, nein, ich musste auch noch mitansehen, wie sie selbst zusammengeschlagen wurde. Und als ich alt genug war, um sowohl ihre als auch meine Verletzungen zu heilen, da hatte sie sich über meine Fähigkeiten ausgeschwiegen und mich mit meinen Ängsten alleingelassen. Erst nach ihrem Tod hatte ich erfahren, was sie gewusst hatte –alsich nämlich die Aufnahmen auf dem iPod entdeckt hatte. Das war zu wenig. Und viel zu spät.
Und mein Großvater hatte keine Ahnung, dass sie nicht mehr lebte.
Keiner der drei gab mir die Chance zu erklären, dass die E-Mail ja an meine Mutter gerichtet worden war. Dummerweise war mir der Gedanke, mein Großvater könne mich für sie halten, gar nicht gekommen. Nun musste ich ihm zu allem Überfluss auch noch beibringen, dass seine Tochter von meinem Stiefvater umgebracht worden war. Ich wollte gerade ansetzen, das alles aufzuschlüsseln, als Lucy schon den Mund aufmachte, um ihre Gründe herunterzurattern, wieso ich die E-Mail meines Großvaters ignorieren sollte.
Mein Handy klingelte, und ich ging erleichtert dran, als auf dem Display der Name meines Freundes Brandon erschien.
»Hi, Brand. Was gibt’s?«
»Du hast nicht vergessen, dass heute Abend Crimson Chaos spielt?«
»Nein, wofür hältst du mich?«
Brandons Band trat oft im Underground auf und unsere ganze Clique war fast jedes Mal dort. Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten, und ich versprach, dass wir auch dieses Mal dabei sein würden.
»Ich will gehen«, sagte ich gereizt und verletzt.
»Remy?«
Asher klang besorgt, aber ich wollte einfach nur meine Ruhe.
»Wir sehen uns später!«
Ich zog Lucy am Ärmel, und ohne mehr zu sagen, verließen wir die Blackwells.
Zu Hause versteckte ich die E-Mail in einem Stiefel in meinem Wandschrank, auch wenn mir klar war, dass meinDad und meine Stiefmutter nie in meinen Sachen herumschnüffeln würden. Sie hatten keine Ahnung, wie ich drauf war, und ich konnte das Risiko nicht eingehen, dass sie es durch einen Brief herausfanden, den ich herumliegen ließ.
Bei unserer Ankunft wimmelte es im Underground bereits von Teenagern. Der Graduation Day stand kurz bevor, und Brandons Band heizte mit ihrem wilden Sound den Leuten, die sich auf der fingernagelgroßen Tanzfläche aneinanderdrängten, kräftig ein. Für die künftigen Schulabgänger gab’s kein Halten mehr, und sie rissen alle anderen mit.
Ich hatte es noch niemandem erzählt, aber ich hatte mich für drei vormedizinische Programme beworben, und war für zwei davon angenommen worden. Normalerweise hätte mein Vater bestimmt ein bisschen Druck ausgeübt, damit ich Pläne für die Zeit nach der Highschool machte, aber nachdem ich erst im März nach Blackwell Falls gezogen war und wir uns erst so kurz kannten, hatte er sich wohl lieber zurückgehalten. Vermutlich ging Ben davon aus, dass ich den Anmeldeschluss fürs Herbstsemester verpasst hatte. Dabei hatte ich meine Bewerbungen schon vor längerer Zeit abgeschickt. Lange bevor ich mich fragen musste, ob das College überhaupt je eine Rolle in meinem Leben spielen würde, wo doch die Beschützer jeden Tag näher an meine Türschwelle rückten.
In dem
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