Die Schatten der Vergangenheit
revanchieren zu können.
»Sag’s ihm, Remy«, meinte Asher, dessen Akzent irgendwo zwischen amerikanisch und britisch angesiedelt war.
Ich zog eine Schnute und jammerte in sein blaues Poloshirt, das ganz warm von seiner Haut war. »Muss ich? Ich mag ihn viel, viel lieber, wenn er nicht so tut, als wäre er der Größte.«
Asher grinste. »Ich weiß, mo cridhe, aber es wird Zeit, ihm reinen Wein einzuschenken.«
Ich werde auch nach fünfzig Jahren noch nicht genug davon haben, wenn du mich auf Gälisch »mein Herz« nennst.
»Dann werde ich nie aufhören, es zu sagen«, beantwortete er meinen Gedanken. »Aber jetzt hör auf, Zeit zu schinden, und sag’s ihm!«
Seufzend löste ich mich von Asher und drehte mich zu Gabriel um. »Erinnerst du dich noch, als Asher im Sterben lag und er mir seine Kräfte aufdrängte?«
Bei der Erinnerung daran zuckte Asher zusammen. Er hatte mir genug Zeit geben wollen, damit ich mich vor Dean retten und meine Verletzungen heilen konnte. Keiner von unshatte gewusst, dass sich die Unsterblichkeit auf mich übertragen lassen konnte.
Gabriel lauschte mit gespannter Miene.
»Obwohl ich ihm seine Beschützerkraft zurückgab, als ich ihn heilte, hat sie mich verändert.«
»Verändert? Inwiefern, Remy?« Sein leiser Ton erinnerte mich daran, wie gefährlich Beschützer sein konnten. Er sprach mich nur selten mit Namen an, und es lief mir dabei jedes Mal eiskalt den Rücken herunter.
Einen Herzschlag später hatte ich in einer Zeit, bei der jeder Weltklassesprinter blass vor Neid geworden wäre, Gabriel zweimal umrundet. Der dadurch entstandene Luftzug zerzauste ihm noch immer das Haar, als ich schon längst wieder neben Asher stand. Für jeden Fremden blieb Gabriels Gesichtsausdruck unergründlich, aber das Zucken seines linken Augenlids sagte mir, ich würde höllisch dafür bezahlen müssen, dass ich diese neue Gabe vor ihm verheimlicht hatte.
»Das war Anfang Mai, und jetzt haben wir Mitte Juni«, sagte er ruhig. Zu ruhig. »Das ist Wochen her. Keiner von euch beiden hat es für nötig gehalten, das zu erwähnen?«
Asher stellte sich demonstrativ vor mich, und ich funkelte seinen Rücken an. Lass das. Du brauchst mich nicht vor deinem Bruder zu beschützen! Als er meine Gedanken einfach überhörte, erwog ich, ihn zu verprügeln, aber auch dieses mentale Bild ließ ihn kalt.
»Bislang hat’s ja auch keine Rolle gespielt«, meinte Asher. »Bis sie sich von ihren Verletzungen erholt hatte, war Remy zu schwach fürs Training. Jetzt geht’s ihr besser.«
Ich versuchte, Asher zur Seite zu schubsen, doch selbst mit meiner gesteigerten Kraft rührte er sich nicht vom Fleck. Ich machte Anstalten, um ihn herumzulaufen. Er hörte meine Absicht und hielt mich an meinem T - Shirt fest.
Auch wenn du anderer Meinung bist, du Neandertaler, hat dieses Benehmen spätestens seit du achtzehn bist an Reiz verloren!
Asher zuckte darauf nur die Achseln, und ich machte ein finsteres Gesicht.
»Genug«, befahl Gabriel gereizt. Er hasste es, wenn sein Bruder und ich schweigend miteinander kommunizierten und ihn aus der Unterhaltung ausschlossen, da er meine Gedanken nicht hören konnte.
Ich gab auf. Mein T - Shirt war schon völlig ausgeleiert. »Es war meine Idee. Ich wollte meine neuen Fähigkeiten in einem Kampf mit dir erproben. Meine Grenzen kennenlernen. Und siehe da, es hat geklappt. Ich habe etwas rausgekriegt.«
»Und zwar?«
Mein Plan ging auf: Seine Neugierde war geweckt und gewann zeitweilig die Oberhand über seine Wut. Soviel wir wussten, hatte es noch nie jemanden gegeben wie mich, in dessen Adern zur Hälfte Heilerinnen- und zur Hälfte Beschützerblut floss. Jedes Mal, wenn wir dachten, wir würden das ganze Ausmaß meiner Fähigkeiten kennen, überraschte ich uns alle, indem ich zum Beispiel während des Trainings von der anderen Raumseite aus einen von Gabriels Knochen brach oder alle Blackwells dazu brachte, plötzlich wieder Rosen zu riechen, wo sie doch vor langer Zeit ihren Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn gegen die Unsterblichkeit eingetauscht hatten.
»Dass du mich die ganze Zeit geschont hast, du riesengroßes Weichei, du!«, sagte ich. Gabriel machte ein stinksaueres Gesicht, und ich lachte und setzte mit einer Singsangstimme hinzu: »Na komm, gib’s zu. Du magst mich!«
Hass hätte seinen Gesichtsausdruck besser beschrieben. Heilerinnen und Beschützer waren von Natur aus Feinde. Gabriel ertrug mich bestenfalls, weil er seinen Bruder fast soinnig
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