Die Schatten der Vergangenheit
liebte wie ich. Allein deshalb hatten wir uns zu einem wackeligen Waffenstillstand bereiterklärt. Doch ich behielt immer im Hinterkopf, dass mich Gabriel, wäre Asher nicht gewesen, vielleicht schon bei unserem ersten Zusammentreffen umgebracht hätte. Oder schlimmer, ich wäre am Ende mit ihm, dem ältesten Bruder, anstatt mit Asher einen Bund eingegangen, so wie sich das zwischen Heilerinnen und Beschützern früher einmal gehört hatte.
Bei der Vorstellung, Gabriel würde meine Gedanken lesen und ich seine Energie einsetzen, um meine Verletzungen zu heilen, schüttelte es mich. Ich liebte Asher und hatte mich gerade erst an unseren Bund und seine Gedankenleserei gewöhnt, obwohl ich mich seit unserer ersten Begegnung vor drei Monaten, als ich zu meinem Vater nach Blackwell Falls gezogen war, mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte.
Gabriel wusste, wie froh ich war, dass ich nicht mit ihm, sondern mit seinem jüngeren Bruder den Bund eingegangen war, aber behielt seine Meinung darüber für sich. Stattdessen kritisierte und schikanierte er mich, und ich versuchte, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Asher stand zwischen uns und bemühte sich um Schadensbegrenzung.
Auf meine spöttische Bemerkung hin hob Gabriel seine dunkle Augenbraue. »Ich mag dich ungefähr so sehr wie du mich, würde ich mal sagen.«
Ich grinste. »Nur zu wahr!«
Hätte ich Gabriel einen Sinn für Humor zugebilligt, dann hätte ich es für möglich gehalten, dass sich seine Mundwinkel gerade amüsiert nach oben zogen. Aber das war zum Glück ausgeschlossen. Ich kam mit Gabriel nicht zurecht, wenn er anfing, Witze zu reißen. Ich drehte mich wieder zu Asher und schlug ihn auf den Arm.
»He, wofür war das denn?«
»Du hättest mir sagen können, dass mich Gabriel die ganze Zeit mit Glacéhandschuhen anfasst!« Trotz meiner neuen Energie hatte er mich locker schachmatt gesetzt. Bislang hatte er bei unseren Trainingsstunden garantiert nicht seine volle Kraft eingesetzt.
Wieder zuckte Asher die Achseln. »Wozu hätte das gut sein sollen? Wär’s dir lieber, ich ließe zu, dass er dir zur Veranschaulichung unserer Macht das Genick bricht?« Bevor ich ihn wieder schlagen konnte, schnappte er sich meine Hand, massierte den geprellten Knöchel und hob ihn an seine Lippen. »Zufällig mag ich dich so, wie du bist, und würde lieber nicht herausfinden, was geschähe, wenn Gabriel dich mal richtig in die Mangel nähme.«
Auch wenn er das in lockerem Ton sagte, ließen sich seine wahren Gefühle an seiner angespannten Haltung ablesen. Trotz der Loyalität seiner Familie gegenüber würde er gegen jeden vorgehen, der mir etwas antun wollte. Das hatte er bewiesen, als Gabriel mir vor einiger Zeit in dem Wunsch, ihre Schwester Lottie zu beschützen, gedroht hatte.
Seufzend sah ich Asher an. Sein zerzaustes Haar war ihm bis über den Kragen gewachsen, und ich hatte größte Lust, mit den Fingern hindurchzufahren und ihn wild zu küssen.
Asher verzog die vollen Lippen, öffnete meine Handfläche und drückte einen Kuss darauf. »Du tust es wieder.«
Ich tue was wieder?
Er beugte sich zu mir hinunter und flüsterte mir ins Ohr. »Darüber nachdenken, wie unwiderstehlich du mich findest.«
Als Gabriel Asher hörte, prustete er los. Dieses blöde gesteigerte Hörvermögen – das ich leider nicht besaß!
»Könnten wir uns bitte wieder der vorliegenden Angelegenheit widmen? Ich habe noch zu tun, wenn ihr zwei euch also voneinander trennen könntet …«
Widerwillig lösten wir uns. Als ich sah, wie verspannt Gabriel dastand, begriff ich, dass das ständige Summen, das von mir ausging, wenn ich meine Fähigkeiten einsetzte, ihm Schmerzen bereitete. Langsam fuhr ich meine mentalen Mauern nach oben, um die Blackwells zu schützen, und versperrte damit auch Asher den Zugang zu meinen Gedanken. Dann beschrieb ich detailliert, wie sich zu meinem Repertoire des Heilens und manchmal auch des Verletzens noch Kraft und Schnelligkeit hinzugesellt hatten. Ich war weder unsterblich wie die Beschützer noch wehrlos wie die Heilerinnen. Ich war etwas anderes.
Als ich fertig war, warf Gabriel Asher einen bedeutungsvollen Blick zu, und Asher, der sich die Stirn rieb, als hätte er Kopfschmerzen bekommen, nickte.
Ehe ich sie dazu befragen konnte, erklangen im Flur vor dem Trainingsraum zwei weibliche Stimmen.
»Du kannst da jetzt nicht rein!«
Trotz ihres Protests hatte Lottie den Kampf bereits aufgegeben, denn sonst hätte sich meine kleine
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