Die Schatten der Vergangenheit
wie zwanzig aussah, lebte Gabriel schon über ein Jahrhundert und war mir mit meinen achtzehn Jahren, was unsere Fähigkeiten anging, an Erfahrung weit voraus. Ich versuchte, meinen Griff zu verstärken, doch zu spät. Noch während ich daran dachte, bog er mir mit dem Knie auch schon das Rückgrat durch und drückte mir das Gesicht in die Matte.
»Ich habe dir auch gesagt, du sollst dich konzentrieren, anstatt übermütig zu werden!«, meinte er in dem für ihn typisch britischen Tonfall. Die Selbstgefälligkeit in seiner Stimme ging mir auf den Keks. »Jetzt sei eine brave Sterbliche und sag’s!«
Seine Version, wie ich mir meine Niederlage eingestehen sollte, meinte er. Zehn Minuten zuvor hatte ich mit ihm gewettet, ich könne ihn in einem fairen Kampf zu Boden zwingen, und er war darauf eingegangen, allerdings zu seinen Bedingungen.
»Na komm schon, Heilerin. Raus damit. Sag, dass ich der größte Beschützer aller Zeiten bin!«
Er verlagerte sein Gewicht und verstärkte damit den Druck seines Knies. Knurrend testete ich meinen Bewegungsradius und spürte, wie sich die Schmerzen in mir zu einem elektrisierenden Sturm entwickelten. Mächtige Energie, die leider nicht ausreichte, um den Spieß umzudrehen. Viel fehlt nicht, du eingebildeter Schnösel!
»Na gut«, meinte ich niedergeschlagen und wehrte mich nicht länger. »Du hast gewonnen. Ich sag’s.«
Ich malte mir das fiese Grinsen auf seinem makellosen Gesicht aus und nutzte die Wut, um mich gegen die bevorstehenden Schmerzen zu rüsten. Dann bäumte ich mich abrupt auf, sodass sich sein Knie ein wenig mehr in mich bohrte als nötig und eine meiner Bandscheiben mit einem Knacksen, seitwärts rutschte. Der Sturm brach aus mir heraus, und ich beschoss Gabriel mit meinen Schmerzen. Noch ein Knacksen und er fiel mit einem dumpfen Geräusch neben mich, sein Rücken genauso lädiert wie meiner. Poetische Gerechtigkeit. In der darauffolgenden Stille drückte ich die Wange in die weiche Matte und betrachtete meinen Erzfeind, der, in Embryostellung zusammengerollt, neben mir lag.
»Ich bin die größte Beschützerin aller Zeiten«, erklärte ich dann, wobei meine Stimme gut und gern etwas kräftiger hätte klingen können.
Asher, der vor Lachen fast erstickte, kniete sich neben mich. Mit seinem schokoladenbraunen Haar, das ihm in die Stirn fiel und die fünf Zentimeter lange weiße Narbe verdeckte, die sich durch eine Augenbraue zog, sah er wie eine unvollkommenere, schlankere Version Gabriels aus. Der sorgenvolle Blick in seinen dunkelgrünen Augen entschädigte mich schon fast wieder für die Schmerzen. Er hasste es, zuschauen zu müssen, wie sein Bruder mich traktierte, aber seine eigenen Versuche, mit mir zu trainieren, waren ein Reinfall gewesen. Entweder ich sah über die Gefahren der Welt, in die ich in den zurückliegenden Monaten geraten war, einfach hinweg, oder ich legte mich ins Zeug, um für den Tag gerüstet zu sein, an dem die anderen Beschützer – die, die anders waren als die beiden Jungs hier – mich aufspürten. Wenn es um den Schutz meiner neuen Familie ging, hatte ich da wirklich eineWahl? Nein! Um meinen Dad, meine Stiefmutter und meine Schwester zu beschützen, musste ich vorbereitet sein.
»Alles okay?«, fragte Asher und strich mir eine widerspenstige blonde Strähne hinters Ohr.
Machst du Witze? Endlich habe ich Gabriel mal das Maul gestopft! Verdammt, ich bin genial! Außer dass ich vermutlich einen Chiropraktiker brauchen werde.
Asher, vertrauter damit, meine Stimme in seinem Kopf zu hören, als es irgendjemand sein sollte, lächelte über meine Schadenfreude. Unsere Beziehung hatte ihre Höhen und Tiefen. »Brauchst du meine Hilfe?«
Er bot mir seine Beschützerenergie an, damit ich mich heilen konnte.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss mich erst mal um Gabriel kümmern.«
Asher nickte und schob mich sanft näher zu seinem Bruder hin.
»Wäre einer so nett, mir zu erklären, was das gerade war?«, forderte Gabriel mit gepresster Stimme.
Er lag reglos da, mit einer Rückenverletzung, die meiner bis aufs Haar glich. Nach einem Jahrhundert ohne Empfindungsvermögen und noch nicht an dessen Rückkehr gewöhnt, litten alle Blackwells darunter, wenn meine Gabe sie daran erinnerte, wie sich das Menschsein anfühlte. Natürlich hielt Gabriel mich meist auf Abstand, sodass ich meine Fähigkeiten bei ihm nicht einsetzen konnte. Wer würde ihm das verdenken? Denn die beiden Male, als ich beim Training seine Abwehr durchbrochen
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