Die Schatten eines Sommers
wusste.
Dorit und ich, wir waren Freundinnen gewesen, damals in diesem ebenfalls so schrecklich heißen Sommer, als das mit ihrer Mutter passierte. Dorits Mutter, diese lebenslustige, immer leicht überdrehte Frau mit den hellen lockigen Haaren. Merkwürdigerweise konnte ich mich nach all den Jahren noch daran erinnern, wie sie ausgesehen hatte, als sie uns an Dorits sechzehntem Geburtstag kalten Früchtetee in den Garten gebracht hatte. Dorit hatte keine große Feier gewollt, nur wir vier Freundinnen waren da gewesen und hatten auf einer Decke im Gras gelegen. Dorit hatte ihre Mutter mit einem teilnahmslosen Blick gemustert und sie rüde unterbrochen, als sie mit uns Mädchen ein paar Worte wechseln wollte. Dorit konnte böse sein. Das sah man ihrem harmlosen Äußeren nicht an. Nur wer sie besser kannte, durchschaute ihre Fassade.
«Also, Fabienne, Freitag in einer Woche um elf Uhr. Man könnte es auch noch auf zwölf verschieben.» Die drängende Stimme meiner Tante riss mich aus meinen Erinnerungen und holte mich in die Gegenwart zurück. «Ich finde, das bist du der armen Dorit schuldig, mein Kind.»
Die arme Dorit – in all den Jahren seit dem Unfall hatte Tante Hiltrud Dorits Namen immer mit diesem Attribut versehen. Ich musste geradezu aufpassen, diesen peinlichen Ausdruck nicht von ihr zu übernehmen. Denn so einfach geht es im Leben nicht zu. Hier die Opfer, da die Täter. Auch Dorit war damals nicht das arme Ding gewesen, das von den Ereignissen überrollt wurde – nicht einmal ihre Mutter war das gewesen. Wir hatten alle unseren Anteil gehabt, waren alle miteinander verstrickt gewesen in diese Geschichte. Wir, Hanna, Marie, Dorit und ich, die Unzertrennlichen. Aneinander gebunden, bis über das Grab hinaus. War es denn nicht möglich, dieses unsägliche Band zu zerschneiden?
«Ich kann nicht …» Schon während ich diese Worte aussprach, spürte ich, dass sie nur halbherzig klangen. Und meine Tante spürte das auch.
«Du hast doch Urlaub, Fabienne. Nun sag schon ja. Aus alter Freundschaft zu Dorit wirst du doch wohl kommen, oder nicht?»
Ich sagte zu, aus alter Freundschaft. Ich versprach, die Grabrede zu halten. Ich versprach es wie unter Zwang, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Vielleicht sollte es so sein. Ich würde die Rede zu Dorits Begräbnis halten.
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HANNA
Am Tag, nachdem ich von Dorits Tod erfahren hatte, kam ein Redakteur vom NDR , um ein Interview mit mir zu machen. Ein langes Interview. Ich hatte daran gedacht, ihm mit einer Ausrede abzusagen, aber dann ließ ich es doch. Hinterher ärgerte ich mich. Meine Antworten auf seine Fragen kamen nicht ansatzweise so souverän und leicht rüber, wie ich es geübt hatte. Tatsächlich stand ich völlig neben mir. Als er mich fragte, inwieweit meine eigene Jugend mit meinem Buch zu tun hatte, sagte ich meine Standardantwort auf. «Natürlich habe ich meine Vergangenheit durchforstet. Und ja, natürlich bietet so ein kleines Dorf jede Menge erschreckendes Material.» Noch während ich sprach, merkte ich, dass es anders klang als sonst: kein bisschen abgeklärt und tough, sondern bedrückt und schwer. Als der Redakteur nachfragte, wich ich in Philosophisches aus, über dörfliche Idylle und die Geheimnisse, die sie birgt. Aber an seinen Blicken merkte ich, dass er hinter meinen Antworten etwas anderes erahnte. Ich war froh, als er endlich ging.
Schon seit Tagen ließ die Sommerhitze den Asphalt schmelzen, und durch das offene Fenster drangen der Autolärm und das Lachen auf den Straßen Berlins zu mir herauf. Sommer in der Stadt. Es gab nichts Besseres.
In jenem Juli war nichts zu hören gewesen, außer dem einschläfernden Brummen der Bienen. Die Kornfelder wogten, und die Stille war groß gewesen in Beerenbök. Der Sommer schien nicht enden zu wollen, die heißen Tage hatten sich aneinandergereiht, bis zu jenem, an dem die Zeit stehengeblieben war. Ich war unendlich erleichtert gewesen, als meiner Mutter kurz darauf eine Stelle als Oberärztin in Berlin angeboten wurde. Es ging dann alles sehr schnell. Innerhalb weniger Wochen ließ meine Familie das Dorf für immer hinter sich, und ich schwor mir, nie wieder dorthin zurückzukehren. Dorthin, wo die Mittagsstunden nach Mist und Braten rochen und sich hinter nahezu jeder weißen Spitzengardine ein Drama zu verbergen schien. Wie hatte Dorit es da nur ausgehalten, all diese Jahre seitdem?
Am Nachmittag lag der Trauerbrief im Briefkasten. Noch im Hausflur riss
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