Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
schnaubte leise, als sie die Gegend erkannte. Leith, natürlich. Hier lagen die meisten um diese Uhrzeit im Bett und schliefen ihren Rausch aus.
Eine Bewegung lenkte Zoes Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah zur anderen Seite und erkannte einen Mann in einer dunkelbraunen, weich aussehenden Lederjacke, der gerade aus einem der alten Häuser trat. Seine dunklen Haare fielen ihm halb lang bis auf den Kragen der Jacke, und er trug einen leichten Bartschatten auf den Wangen. Er stand keine fünf Meter von dem Taxi entfernt, das gerade an einer roten Ampel hielt.
Seine Kleidung und sein Aussehen schienen nicht so recht in diese Gegend zu passen – er wirkte zu weltgewandt, zu fremd. Während Zoe noch versuchte, ihn einzuordnen und herauszufinden, was so ein Mann in Leith verloren haben mochte, hob der Fremde den Kopf, und sein Blick kreuzte sich mit ihrem.
Zoe war zu gebannt, um wegzusehen. Dem Mann schien es ähnlich zu gehen; er sah sie an, und sie spürte, wie unwillkürlich ihr Herz einen Taktschlag schneller schlug.
Zoe schluckte. Sie hätte es nicht beschwören können, aber von ihrer Position aus sah es so aus, als würden die Augen des Mannes golden aufleuchten. Bevor sie aber genauer hinsehen konnte, sprang die Ampel auf Grün um, und Zoe verlor den Fremden aus den Augen.
Während der restlichen Fahrt grübelte Zoe noch ein wenig über den Mann nach, aber je näher sie ihrem Zuhause kam, umso mehr wurden ihre Gedanken in eine andere Richtung gelenkt.
Nachdem das Taxi sie abgesetzt hatte, brachte Zoe den langen, stinkenden Flur hinter sich und beeilte sich, die Wohnungstür hinter sich zu schließen. Der ekelerregende Geruch nach billigem Putzmittel und altem Fett verschwand damit aber nicht sofort, sondern blieb noch einen Moment lang in ihrer Nase haften. Eines Tages würde sie sich darüber beschweren. Oder eines Nachts – in letzter Zeit schien sie kaum noch die Sonne zu sehen. Was vielleicht auch ganz gut war; solche Jobs wie den, den sie gerade hinter sich gebracht hatte, wollte man nicht bei Tag erledigen.
Sie schob den Riemen der Fototasche zurecht. Der Inhalt der Speicherkarte, die in der digitalen Spiegelreflexkamera steckte, schien ihre Schulter niederdrücken zu wollen. Zoe seufzte unmerklich und schleppte Tasche und Kamera ins Wohnzimmer. Wenn sie Hochzeiten oder Taufen fotografierte, fühlte ihre Kamera sich niemals so schwer an. Nur nach solchen Jobs.
Die Tasche landete auf dem Sofa, und Zoe stand für einen Augenblick selbstvergessen mitten im dunklen Raum, ehe sie zum Fenster ging und die Lichterketten rund um den Fensterrahmen anknipste. Weiches Licht erhellte das Zimmer und offenbarte diverse Lampen und Kerzenständer an den Wänden, der Decke und sogar dem Boden.
Zoe liebte Licht – für jede Stimmung hatte sie unterschiedliche Lichtquellen. Für eine »Ich komme gerade von einem blutigen Tatort, und es ist drei Uhr nachts«-Stimmung bevorzugte sie Kerzen oder Lichterketten.
Als ihr Blick über die großen Stielkerzen glitt, überlegte sie kurz, diese anstelle der Lichterkette anzuzünden. Dann aber verwarf sie den Gedanken wieder – sie wollte die Fotos durchsehen und dafür brauchte sie elektrisches Licht.
Mit einer geübten Bewegung schenkte sie sich ein Glas Single Malt aus der Flasche auf dem Tisch ein, die seit dem Vortag dort stand, und fuhr ihren Laptop hoch. Es dauerte etwas, und Zoe versuchte, sich vorsichtig an die Erinnerungen der vergangenen Stunde heranzutasten. Sie war beileibe nicht die einzige Tatortfotografin in Edinburgh und den umliegenden Lothians, aber sie war diejenige, die als Erste angerufen wurde, wenn das Verbrechen besonders blutig gewesen war.
Und solche Verbrechen geschahen meist nachts, diese Erfahrung hatte Zoe bisher schon gemacht. Den Grund, warum Zoe immer dazugerufen wurde, hatte ihr Ex-Freund Adrian einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: »Seit du bei diesen Fällen fotografierst, ist die Aufklärungsrate bei Morden viel höher geworden. Du bist unser Glücksbringer.«
Zoe nippte nachdenklich an ihrem Glas und leckte einen Tropfen des goldenen Inhalts vom Rand. › Glücksbringer ‹ , ging es ihr durch den Kopf. › Das hat mit Glück nichts zu tun. Nur mit meiner Begabung. ‹
Die Startmusik des Computerprogramms ertönte, und Zoe zuckte zusammen. Fast schuldbewusst sah sie sich in dem leeren Wohnzimmer um, fingerte die Speicherkarte aus der Kamera und schob sie in den Kartenleserschlitz des Laptops.
Das Bildprogramm blinkte auf, und Zoe
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