Die Schneekönigin (illustrierte Ausgabe)
anzusehen wagen, so stolz steht er in der Tür.“
„Das muss gräulich sein!“ sagte das kleine Gerda. „Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?“
„Wäre ich nicht Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, und das ungeachtet ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben, wie ich spreche, wenn ich die Krähensprache rede, das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich; er war gar nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören, und die fand er gut, und sie fand ihn wieder gut.“
„Ja, sicher, das war Kay!“ sagte Gerda. „Er war so klug, er konnte die Kopfrechnung mit Brüchen! — Oh, willst du mich nicht auf dem Schlosse einführen?“
„Ja, das ist leicht gesagt!“ sagte die Krähe. „Aber wie machen wir das? Ich werde darüber mit meiner zahmen Geliebten sprechen; sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muss ich dir sagen, so ein kleines Mädchen, wie du bist, bekommt nie Erlaubnis, hineinzukommen!“
„Ja, die erhalte ich!“ sagte Gerda. „Wenn Kay hört, dass ich da bin, kommt er sogleich heraus und holt mich!“
„Erwarte mich dort am Gitter!“ sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopf und flog davon.
Erst als es spät Abend war, kehrte die Krähe zurück. „Kra! kra!“ sagte sie. „Ich soll dich vielmal von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für dich, das nahm sie aus der Küche, da ist Brot genug und du bist sicher hungrig! — Es ist nicht möglich, dass du in das Schloss hineinkommst. Du hast ja bloße Füße. Die Wachen in Silber und die Diener in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht, du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wo sie den Schlüssel erhalten kann.“
Sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo das eine Blatt nach dem anderen abfiel, und als auf dem Schlosse die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem anderen, führte die Krähe das kleine Gerda zu einer Hintertür, die angelehnt stand.
Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war ihr, als ob sie etwas Böses tun wollte, und sie wollte ja nur wissen, ob der kleine Kay da sei. Ja, er musste hier sein; sie gedachte ganz deutlich seiner klaren Augen, seines langen Haares; sie konnte ihn lächeln sehen, wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh sein, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen, als er nicht wiedergekommen. Oh, das war eine Furcht und eine Freude!
Nun waren sie auf der Treppe. Da brannte eine kleine Lampe auf einem Schranke, und mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gerda, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.
„Mein Verlobter hat mir sehr viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein“, sagte die zahme Krähe, „Ihr Lebenslauf ist auch sehr rührend! — Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir niemand!“
„Es ist mir, als käme gerade jemand hinter uns!“ sagte Gerda, und es sauste an ihr vorbei; es war wie Schatten an der Wand entlang, Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.
„Das sind nur Träume!“ sagte die Krähe, „die kommen und holen der hohen Herrschaft Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bette betrachten.
Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehre und Würde gelangen, dass Sie dann ein dankbares Herz zeigen werden.“
„Darüber bedarf es keiner Worte!“ sagte die Krähe vom Wald.
Nun kamen sie in den ersten Saal, der war von rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf. Hier sausten die Träume schon an ihnen vorüber, aber sie fuhren so schnell, dass Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere; ja, man konnte wohl betäubt werden, und nun waren sie im Schlafgemach. Die Decke hier glich einer großen Palme mit Blättern von Glas, kostbarem Glas, und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stängel von Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Das eine Bett war weiß, in diesem lag die Prinzessin; das andere war rot und in diesem sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eines der roten Blätter zur Seite, und da sah sie
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